Kapitel 10 ~ Vision

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Ich blicke auf ein spärlich, lediglich durch eine Kerze, erleuchtetes Zimmer hinab.

Ehe ich mich fragen konnte, wo ich mich befand und wie ich hierher gekommen war, wurde meine Aufmerksamkeit auf eine junge Frau mit langem schwarzem Haar gelenkt, die panisch in dem Raum auf und ab lief. In der Hand hielt sie ein altmodisches Tastenhandy, in welches sie leise hineinsprach. Mit Mühe konnte ich die letzten Worte verstehen, die sie in großer Angst in den Hörer wisperte: „Bitte Ant! Beeile dich! Er ist gleich hier!", sie unterdrückte einen Schluchzer, wobei sich ihre geschwungenen Lippen fest aufeinander pressten, ehe sie kaum hörbar hinzufügte: „Ich kann ihn spüren."

Als sie auf die Antwort, die daraufhin aus dem Hörer zu erklingen schien, stumm genickt hatte, klappte sie das Handy zusammen und versuchte sich mit einem tiefen Atemzug zu beruhigen. Ihr schmaler Oberkörper wirkte in dem eng anliegenden, weinroten Oberteil so gebrechlich, dass ich fürchtete, sie würde jeden Moment, durch die Anspannung und das davon ausgehende Zittern ihres Körpers, kollabieren. Die langen Beine staksten orientierungslos durch den Raum, während ihre verschiedenfarbigen Augen hektisch immer und immer wieder ihr Ziel zu wechseln schienen. Schließlich atmete sie erneut tief ein, wobei ich anhand ihres Ausatmens das nachschwingende, angsterfüllte Bibbern deutlich wahrnehmen konnte.

Die junge Frau trat an ein Kinderbett, das mir vorher nicht aufgefallen war. Zwei kleine Babys schlummerten friedlich darin. Sie wiegte es sacht hin und her und sah auf die Kleinen hinab, deren Hände sich ineinander verschränkten. Ein zartes Lächeln umspielte ihre naturroten Lippen, die plötzlich von einem Tropfen durchsichtiger Flüssigkeit benetzt wurden. Ein Weiterer rollte von ihrer Wange, über den Mund, bis hin zum Kinn, wo er sich mit dem ersten Tropfen verband, von ihrer porzellanfarbigen Haut löste und zeitlupenartig auf dem hölzernen Kiefernboden aufschlug.

Leise begann sie ein Lied anzustimmen, das mir, jetzt wo ich es aus ihrem Mund hörte, auf eine besondere Weise bekannt vorkam. Tief in mir schien sich etwas bei dem Klang ihrer sanftmütigen Stimme zu regen. Obwohl ihr Gesang eher an ein Wimmern erinnerte, kehrte ein wohliges Gefühl in mir ein.

Unaufhörlich schälten sich die Tränen aus ihren bereits stark geröteten Augen. Die junge Frau hatten große Ähnlichkeit mit denen meines Bruders und mir. Ihre langen, schwarzen Wimpern rundeten das wunderschöne Erscheinungsbild ab und stellten, ebenso wie die gleichfarbigen, glatten Brauen, einen außergewöhnlichen Kontrast her.

Obwohl ich diese Frau das erste Mal in meinem Leben zu Gesicht bekam, spürte ich zu ihr eine intensive Verbundenheit. Eine leise Stimme in meinem Inneren flüsterte das, von dem ich wusste, dass es wahr war, jedoch einfach nicht glauben konnte:

«Diese angsterfüllte Schönheit ist deine Mutter, Luna»

Ungläubig starrte ich auf sie hinab und prägte mir ihren Anblick so genau wie möglich ein:

Die hohen Wangenknochen und kleinen, spitz zulaufenden Ohren, von denen das Linke mit verschiedenen Ringen geziert wurde, die ihr einen leicht verwegenen Ausdruck verliehen.

Die hohe, glatte Stirn, die teilweise von ihrem vollen Haar, das ihr in filigranen Strähnen ins Gesicht fiel, verdeckt wurde.

Den ausdruckslosen Blick, der auf ihrem lebendigen Gesicht völlig fehl am Platz erschien und die anmutige, gerade Körperhaltung, die auf einen willensstarken Charakter schließen ließ.

Ganz besonders prägte ich mir jedoch den Klang ihrer weichen Stimme ein. Es kam mir vor, als würde ich von hellen Zitronenfaltern umtanzt werden, als ich die Augen schloss und mich ganz auf ihren Gesang einließ.

Allerdings, als ich erfasste, welche Grauen erregenden Worte sie mit dieser Lieblichkeit aussprach, huschte eine Gänsehaut über meinen Körper. Die Schmetterlinge zerfielen vor meinen Augen zu staub und ich erwachte aus dem sonnigen wie kurzen Tagtraum:

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