Kapitel 12 ~ Aiden

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Seufzend ließ ich mich, mit einer heißen Tasse Kamillentee in der Hand, auf einem der gepackten Umzugskartons nieder. Die halbe Wohnzimmereinrichtung befand sich bereits fertig verstaut in den Kartons, die sich an der Wand stapelten. Ich sah auf die hölzerne Uhr, die als eines der wenigen Möbelstücke, noch unverpackt auf dem Fensterbrett stand. Es war kurz nach zwölf und wahrscheinlich fragte sich Nino bereits, weshalb Aurel und ich nicht in der Schule waren. Ein Gefühl von Trauer überkam mich, als mir klar wurde, dass wir einander nie wieder begegnen würden. Ich hatte ihn gemocht. Den freundlichen Jungen mit den warmen Rehaugen, hinter dem sich offenbar ebenfalls eine verzwickte Familiengeschichte verbarg. Seltsamerweise verspürte ich ebenfalls Reue, als ich an Erik Parker denken musste. Ebenso suspekt wie mir dieser Kerl war, so undurchschaubar und interessant wirkte er auch auf mich. Ich hätte gern mehr über ihn und seinen Bruder erfahren.

„Morgen.", riss mich die verschlafene Stimme meines Zwillingsbruders aus den trübseligen Gedanken. Ich fröstelte als er den Raum betrat. Es kam mir vor, als würde ein eisiger Windstoß durch das Zimmer fegen. Doch so plötzlich, wie der Temperaturabfall gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden.

„Was ist denn das?", ich grinste belustigt, als ich ein Pinkes Schweißband an seinem rechten Handgelenk entdeckte. Er ließ sich ohne eine Antwort auf meine Frage neben mir nieder und öffnete eine kleine Dose mit gerösteten Erdnüssen, die er aus der Küche geholt hatte. Im ersten Augenblick dachte ich, er hätte sie für mich mitgebracht, da er selbst allergisch auf Hülsenfrüchte reagierte. Doch noch ehe ich nach dem Behältnis greifen konnte, nahm er eine große Hand voll und kippte sich die Nüsse in den Mund. Irritiert schielte ich zu ihm hinüber, was ihm jedoch erst aufzufallen schien, als er bereits die Hälfte der Packung geleert hatte. Er erwiderte meinen Blick mit einem leichten Kopfschütteln: „Was?!" Ich lachte leise auf, obwohl ich mich allmählich über sein merkwürdiges Verhalten zu wundern begann. „Schmeckt's?", ein ironischer Unterton schwang in meiner Frage mit, was meinem Bruder nicht entging.

„Oh sorry, waren das deine?", fragte er nun schuldbewusst und schob mir die Schachtel zu. Ich musste mich schwer bemühen um nicht die Kontrolle über meine Kinnlade zu verlieren. Ja, das waren meine Nüsse, aber noch nie hatte Aurel sich dafür entschuldigt, eine meiner Sachen weggegessen zu haben oder mir freiwillig etwas abgeben wollen. Für gewöhnlich schob er bloß ironisch die Unterlippe vor und imitierte ein weinendes Baby, was meist eine Keilerei zwischen uns zur Folge hatte. Er schien nicht nachvollziehen zu können, weshalb ich nun noch verdutzter drein blickte und aß schulterzuckend weiter.

„Ich nehme ein Bad. Wenn du mit deinem Snack fertig bist kannst du ja auch mal ein bisschen mit anpacken.", sprach ich in einem etwas unwirschen Tonfall und stieg die Stufen zum Badezimmer hinauf.

Leider konnte auch ein Bad das seltsame Gefühl in meiner Magengegend nicht beruhigen und als ich eine gute Stunde später schließlich wieder ins Wohnzimmer hinab stieg, stellte ich wenig überrascht fest, dass ich alles so vorfand, wie ich es zurückgelassen hatte. Mein Bruder hatte mal wieder keinen Finger gerührt.

Genervt bückte ich mich nach einem der Kartons, als mich ein dumpfes Geräusch zusammenfahren ließ. Als ich seinem Ursprung auf den Grund gehen wollte, wollte ich meinen Augen nicht trauen: Auf der anderen Seite der gläsernen Terrassentür stand mein Bruder. Es war schockierend genug, ihn dort draußen in der monströsen Gestalt eines Wolfes vorzufinden, doch die Tatsache, dass zwischen seinen gewaltigen Reißzähnen ein lebloser Feldhase baumelte, der den hölzernen Boden mit hellem Rot besprenkelte, setzte der Erscheinung die Krone auf.

Fassungslos schnellte ich zu der Schiebetür und öffnete sie schwungvoll: „Was zum Teufel Aurel?!"

In den Augen meines Bruders lag ein fremdartiges Funkeln. Als er das tote Geschöpf zu Boden fallen ließ, zierte ein genüssliches Lächeln seine Schnauze: „Lust auf eine kleine Jagd?"

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