Kapitel 1

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"CHRIS, Telefon!", schallte eine Stimme die Treppe hoch.
Schlaftrunken schlug ich die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was los war. Im Dunkeln tastete ich nach meinem Handy, das normalerweise auf meinem Nachttisch lag. Es war natürlich nicht dort. Murrend rollte ich mich vom Bett und schlug mir dabei fast den Kopf an.
„Chriiiis!" Die Stimme meiner Mutter wurde ungeduldiger.
„Ja, Mum", schrie ich zurück und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
Es ist schrecklich, wenn man mitten aus dem Tiefschlaf gerissen wird! Das ist das Blödeste, was einem an einem Sonntagmorgen um sieben Uhr passieren kann.
Noch halb im Traumland trampelte ich die Treppe hinunter und wäre beinahe über meine Sporttasche gefallen, die ich am Vorabend einfach achtlos in den Gang geschmissen hatte. Sport war und ist nicht mein Ding. Das einzige, was man davon bekommt, sind blaue Flecken und Muskelkater, und darauf kann ich absolut verzichten. Ich bin nicht unsportlich, so kann man das nicht sagen, aber meine Leidenschaft bleibt die Musik.
„Das Ding schrillt schon seit einer Ewigkeit. Wie tief hast du eigentlich geschlafen, dass du das nicht gehört hast?", schimpfte meine Mutter, als ich die Küche betrat und auf dem Display meines Handys rumdrückte, um Led Zeppelin zum Verstummen zu bringen. Ich murrte etwas unverständliches und nahm das Gerät vom Ladekabel.
„Hörst du mir überhaupt zu?"
Ich blickte auf. „Hm?"
„Das heisst Wie bitte. Also um Himmelswillen!", empörte sie sich. „Nun gut, ich wollte wissen, ob du mir zuhörst.", sagte sie dann.
Gute Frage. Ehrlich gesagt, nein, ich hörte ihr nicht zu, aber ich antwortete: „Ja, ich betreibe Multitasking. Ich kann meine Anrufliste studieren und dir dennoch zuhören. Funktioniert in jungen Jahren noch."
Meine Mutter verdrehte nur die Augen. Ich war schon nicht mehr auf Empfang. Meine Aufmerksamkeit gehörte erneut meinem Smartphone. Der oberste Name auf der Anrufliste lautete Vanessa Zumbrunn. Ich stöhnte innerlich auf. Vanessa war nicht irgendein Mädchen, sie war meine Exfreundin. Seit Tagen hatte sie die lästige Angewohnheit, zu unmenschlichen Zeiten anzurufen. Was sie damit bezwecken wollte? Keine Ahnung.
Ich klickte sie weg.
„Ich lege mich noch ein wenig hin, okay?"
Eigentlich könntest du mir gleich mit der Wäsche helfen. Wenn du schon mal wach bist", durchkreuzte Mum gleich meine Pläne.
„Es ist Sonntag, Mum, Sonntag!"
Sie hatte kein Gehör für meinen Einwand. Tja, das ist das Schicksal eines eigentlich volljährigen Mannes, der noch bei seinen Eltern lebt. Aber für eine eigene Wohnung hatte ich einfach zu wenig Geld in der Tasche. Ich war gerade am letzten Jahr des Gymnasiums und verbrachte meine Freizeit hauptsächlich mit musizieren oder mit meinen Freunden aus der Schule.
„Willst du morgen etwas zum anziehen haben oder nicht?" Meine Mutter schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Das war nicht fair. All meine T-Shirts waren in der Wäsche. Das war Bestechung!
„Oh Mann, okay."
„Ein bisschen mehr Begeisterung, junger Mann."
„Mum, bitte, ich bin neunzehn!"
Sie zuckte nur mit den Achseln und drückte mir einen Korb voll Wäsche in die Finger. Wo sie den so schnell herhatte, weiss ich bis heute nicht.
„Das muss alles zusammengelegt werden und..."
„Was ist das denn?!", unterbrach ich sie entsetzt und hielt ihr ein schwarzes T-Shirt, das einen grässlichen Totenkopf aufgedruckt hatte, unter die Nase.
„Deine Schwester ist in der rebellischen Phase. Nichts zu machen", erklärte sie mir ruhig, nahm mir das Shirt aus der Hand und warf es zurück in den Korb.
„Sie ist vierzehn, das kann nicht ihr Ernst sein! Ich werde mit ihr reden."
Aber Mum hielt mich am Arm zurück. „Lass gut sein, Chris."
„Nein, sie..."
„Schau dir deine Kleider an, als du in diesem Alter warst. Du wirst etliche grauenvolle Stücke darunter finden."
„Ich bin auch ein männliches Wesen. Das ist was anderes."
„Chris", stöhnte sie und schob mich Richtung Wohnzimmer.
„Ist doch so! Zudem habe ich in dem Alter wahrscheinlich noch mit Pokemonkarten gespielt und mir Avatar der Herr der Elemente angesehen."
„Flurina ist vierzehn", erinnerte mich Mum augenverdrehend.
„Ja eben."
„Mit vierzehn hat dich dein Cousin ans Greenfield mitgeschleppt."
„Ou, ja, stimmt. Nightwish war klasse!"
„Siehst du, und du bist auch erwachsen geworden", beschwichtigte mich meine Mutter und lächelte mich an. „Das ist in diesem Alter so. Die Eltern werden uncool, kompliziert und einfach nur schwierig."
Da konnte ich ihr nicht wiedersprechen. In dieser Hinsicht hatte sie recht. Ich musste grinsen und kippte den Inhalt des Wäschekorbes auf den Esstisch.
Während meine Mutter das Frühstück bereit machte, legte ich schweigend Wäsche zusammen. Im Radio lief ein Stück, dass ich selbst auch schon gespielt hatte. Ich erkannte es bereits nach den ersten paar Tönen. Es war das Cellokonzert in C-Dur von Joseph Haydn. Ich musste lächeln.
„Chris, hast du das nicht in Bern gespielt?", fragte mich meine Mutter und streckte den Kopf zur Küchentür heraus. Ich nickte. Es war wohl das grauenvollste Konzert gewesen, das ich je gespielt hatte. Als ich in der Mitte des Stückes war, merkte ich, dass ich den Rest der Noten gar nicht dabeihatte. Ich schwitzte Blut und spielte den Satz so gut es ging auswendig fertig. Am Schluss war ich richtig ausser Atem, aber es schien niemand gemerkt zu haben. Nur mein Cellolehrer zwinkerte mir grinsend zu. Das waren die schlimmsten paar Minuten in meiner Musikkarriere gewesen. Vor allem weil in der ersten Reihe das Mädchen sass, das ich um jeden Preis beeindrucken wollte. Erst später merkte ich, dass mir das auch gelungen war, aber da war sie schon vergeben. So ein Mist. Ja, ich und die Frauen war schon immer eine Krise gewesen und seit meiner gescheiterten Beziehung mit Vanessa hatte ich die Nase richtig voll. Ich wollte mich auf keinen Fall wieder verlieben. Mädchen gehörten zu den Dingen, um die ich am besten einen weiten Bogen machte.
Aber wie das so ist mit der Liebe, kam wieder einmal alles ganz anders, als geplant. Und ich bin unendlich dankbar dafür, dass es so gekommen ist.

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