Kapitel 10

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Das Konzert fand in der Schlosskirche statt und selbst Flurina kam. Aber trotz allem hatte ich ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache. Der Elan vom Morgen war irgendwie verschwunden. Meine Hände zitterten schon bevor ich überhaupt mein Cello ausgepackt hatte. Ich versuchte vergeblich mich zu beruhigen. Mein Herz pochte wie wild und mein Atem ging flach.

„Du schaffst das, Chris, keine Angst! Du hast das Stück so lange geübt. Das muss einfach klappen", sagte mein Vater beruhigend. Ich nickte nur. Mum drückte mir einen kurzen Kuss auf die Stirn, dann liessen sie mich mit dem Orchester alleine. Ich hatte das Gefühl, mein Herz müsste gleich aus meiner Brust springen, als der Dirigent uns zu sich rief und wir den Vorbereitungsraum verliessen.

„Viel Glück, Chris!", raunte mir jemand aus der ersten Geige zu. Auch viele andere wünschten mir Glück. Ich hörte es kaum. Im Kopf ging ich noch einmal die drei Sätze meines Solos durch. Dann betraten wir die Kirche. Applaus wurde laut, als die Zuschauer uns sahen. Mir wurde übel. So nervös war ich noch nie in meinem Leben gewesen. Hatte es etwas damit zu tun, dass ich Jacky unbedingt beeindrucken wollte? Ich verwarf den Gedanken wieder, als ich an meinem Platz angekommen war. Der Dirigent wies uns an, uns zu setzen. Es war ganz still, als er den Takt des ersten Stücks angab. Drei Stücke und dann war mein Solo an der Reihe. Je näher es rückte, desto schneller schlug mein Herz. Mein Kopf fühlte sich an wie leergefegt. Während die Leute klatschten, suchte ich in der Menge nach Jacky. Ich erblickte meine Eltern, meine Grossmutter und Michael, aber Jacky war nirgends zu sehen. Sie war nicht da. Etwas in mir schaltete ab. Wie in Zeitlupe stand ich auf, als die drei Stücke vorbei waren, und ging zu dem Stuhl, den mir jemand hinstellte. Alles in meinem Kopf schien sich irgendwie zu drehen. Ich konnte das Cellokonzert nicht spielen. Nicht in diesem Zustand. Trotzdem setzte ich mich hin und liess den Dirigenten anzählen. Das Orchester begann zu spielen. Meine Gedanken waren weit weg. Ich verpasste beinahe meinen ersten Einsatz und machte etliche Fehler, die ich sonst nie gemacht hatte.

Ich habe noch einen Arzttermin. Das wird nicht lange dauern. Hallten Jackys Worte in meinem Kopf nach. Ich wusste, wieso sie nicht da war. Ich kannte die Antwort. Das Bild vor meinen Augen verschwamm. Ich schloss kurz die Augen, um zu verhindern, dass die Tränen kamen, und liess dann den Bogen sinken. Der Dirigent sah mich fragend an. Ich rührte mich nicht, starrte nur ausdruckslos vor mich hin. Ich merkte kaum, wie die Musik des Orchesters verstummte und alle Blicke auf mich gerichtet wurden. Ich stand wankend auf und winkte nur ab, als mich jemand zurückhalten wollte. Ich musste wissen, was mit Jacky passiert war. Ich konnte nicht dort sitzen bleiben und zu Ende spielen. Ich konnte nicht.

Die Blicke von hunderten Menschen brannten mir im Rücken, als ich die Kirche verliess und zum Vorbereitungsraum zurück hastete. Ich legte mein Cello hin und suchte in meiner Tasche fast schon panisch nach meinem Handy. Als ich es endlich gefunden hatte, schaltete ich es mit zitternden Fingern ein.

Jacky: Kann ich dich sehen? Blinkte die Nachricht auf. Ich sank zu Boden und las die Nachricht wieder und wieder. Es durfte nicht wahr sein! Es konnte nicht sein! Sie war gesund! Es ging ihr gut! Aber ich wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Sie war nicht gesund. Ich erinnerte mich an ihr blasses Gesicht, das Nasenbluten, ihre eiskalten Finger.

Ich komme sofort. Schrieb ich zurück. Ich packte meine Sachen und rannte zum Auto. Während ich rannte, rief ich Mum an. Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln.

„Chris, was in Gottes Namen ist passiert?", ertönte sofort ihre angstvolle Stimme.

„Erkläre ich dir später. Ich muss zu Jacky!"

„Chris..." Den Rest hörte ich nicht mehr, denn ich hatte bereits aufgelegt. Ich schloss den Wagen auf, räumte meine Sachen in den Kofferraum und setzte mich hinters Steuer. Natürlich wollte der Wagen nicht anspringen.

Mein Lied für dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt