Kapitel 19

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Drei Tage später starb sie. Es war das schlimmste Erwachen meines ganzen Lebens. Irgendwie habe ich gespürt, dass sie ging. Ihre Hand, die die ganze Zeit über in meiner gelegen hatte, erschlaffte. Ich schreckte aus dem Schlaf hoch und wusste, dass ihr Herz versagt hatte. Ich wusste es, ohne ihren Puls fühlen zu müssen.

Stille Tränen rannen über mein Gesicht. Ich streichelte ihre Wange.

Irgendwann ging die Tür auf und ihre Mutter trat ein. Es war zur Routine geworden, dass sie jede Nacht mehrmals ins Zimmer kam, um zu schauen, ob alles in Ordnung war.

Diese Nacht war nichts mehr in Ordnung.

Wir sahen uns nur kurz an. Carola hatte schon begriffen. Sie setzte sich neben ihre Tochter auf den Bettrand und drückte ihre Hand.

Wir sprachen nicht. Es gab nichts zu sagen. Jedes Es tut mir leid, hätte es nur schlimmer gemacht. Es war furchtbar.

Ich betrachtete Jackys feine Gesichtszüge. Sie war zu jung.

Um ihren Hals lag die Kette mit dem Engelchen. Ich schluckte schwer. Der Schutzengel hatte ihr nicht sonderlich viel gebracht. Ich schloss die Augen, liess die Tränen einfach über mein Gesicht rinnen. In dem Moment konnte ich nicht stark sein. Es ging nicht.

Carola hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. Wortlos stand sie auf und kam zu mir. Sie nahm mich einfach in den Arm. Es war Ewigkeiten her, dass mich jemand so in den Arm genommen hatte. Wir gaben uns gegenseitig Halt. Ich weiss nicht, ob ich es geschafft hätte ohne sie.

Nach einiger Zeit ging die Tür erneut auf und Philip und Nico betraten das Zimmer. Sie sahen uns, sahen Jacky und begriffen.

Nico liess sich neben seine Schwester auf dem Bettrand nieder.

„Ich wusste es. Ich habe es gespürt", sagte Jackys Vater mit brüchiger Stimme.

Carola stand auf und umarmte ihren Mann sanft.

„Ich glaube, wir haben es alle gespürt. Wir haben sie geliebt und Personen, die man geliebt hat, gehen nicht einfach so. Sie hat sich von uns verabschiedet, bevor sie in den Himmel erhoben wurde", sagte sie leise. Sie lächelte, während ihr Tränen aus den Augen rannen.

„Unserer Jacky geht es gut."

Sie sagte das mit einer solchen Überzeugung, dass man ihr einfach glauben musste. Ich zweifelte keine Sekunde an ihren Worten. Jacky war erlöst worden. Erlöst von ihren Leiden, von ihrer Angst, von ihrer Krankheit. Sie war gesund. Und doch weinten wir alle. Wir weinten, weil sie nie wieder zurückkommen würde, weil sie diese Welt viel zu früh verlassen musste, weil ein lieber Mensch von uns gegangen war.

„Du wirst immer mein Leben sein", flüsterte ich in ihr Ohr. Ich wusste, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht mehr hören konnte. Aber dieses Versprechen musste ich ihr noch geben. Ich musste, weil es die Wahrheit war. Es stimmte und es stimmt bis heute.

Ihre Worte gingen mir durch den Kopf. Ein altes Wesen rollt sich zusammen, damit sich ein neues entfalten kann. Ich mache Platz für jemand anderes.

Aber wer würde an ihre Stelle treten?
Ich stellte mir ein kleines Neugeborenes vor, dessen Eltern es glücklich in den Armen hielten. Es gab immer jemand, der glücklich war. Irgendwo auf dieser Welt gab es jemand, der in dieser Sekunde lachte, es gab jemand, der im Licht der Sonne stand. Für uns war sie untergegangen. Aber für jemand anderes kam nun erst der Aufgang.

Ich drückte Jackys kalte Hand. Meine Tränen fielen auf ihr schönes Gesicht.

„Ich liebe dich, Jacky!", flüsterte ich leise und legte meine Lippen auf ihre Stirn.

Mein Lied für dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt