Kapitel 12

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Ich besuchte Jacky so oft es ging. Nach einigen Tagen begannen ihr die Haare langsam auszufallen. Einmal sass sie weinend im Bett, als ich in ihr Zimmer kam. Ich nahm sie in den Arm und hielt sie fest. Es war das einzige Mal, dass ich sie habe weinen sehen, seit sie im Spital war. Natürlich wusste ich nicht, wie es ihr in den Nächten ging, aber durch den Tag war sie meist aufgestellt und lachte viel. Ihre Zimmernachbarin schien auch ganz nett zu sein. Die beiden tratschten häufig und alberten herum, wenn ihr körperlicher Zustand es erlaubte. Das Mädchen hiess Brianna, was die Starke bedeutet, aber alle nannten sie bloss Bria. Nun wusste ich auch endlich, welche Bedeutung Jaqueline hat. Es heisst Gott möge schützen. Ziemlich passend, wenn ihr mich fragt.

Bria war ein oder zwei Jahre jünger als Jacky und hatte Knochenkrebs. Sie sagte mir, das könnte länger dauern. Vielleicht würde Jacky sogar früher aus dem Spital rauskommen als sie. Aber sie nahm das mit Fassung. Sie war noch fast überdrehter als Jacky und strahlte eine Lebensfreude aus, die ich bewunderte. Die beiden verstanden sich bestens und ich war froh, dass Jacky nicht alleine war, wenn ich in der Schule sass. Meistens konnte ich nur am Abend zu ihr gehen und auch das nicht lange. Es war zum Verzweifeln.

Sie war jetzt schon fast eine Woche im Spital und hatte die Vortherapie hinter sich. Nun würde die Induktionstherapie folgen, eine sehr intensive Chemotherapie, die mit mehreren Medikamenten durchgeführt wurde und die darauf abzielte, die Mehrzahl der Leukämiezellen in kurzer Zeit zu vernichten. Diese Therapiephase würde fünf bis acht Wochen dauern. Das hörte sich in meinen Ohren nach einer unglaublich langen Zeit an. In fünf Wochen waren Sommerferien und ich hatte hoffentlich meine Matur im Sack. Obschon ich das noch bezweifelte. Ich konnte mich so gut wie gar nicht auf die Schule konzentrieren. Jacky half mir bei den Vorbereitungen für die Prüfungen, doch meistens endeten die Gespräche irgendwo weit weg von der Schule.

Es war der 31. Mai und der Tag, an dem ich mit Michael, Natascha und Vanessa ins Kino musste. Ich sass neben Jacky auf dem Bett und beklagte mich darüber. Sie nahm es nur grinsend zur Kenntnis.

„Das ist nicht witzig!", stöhnte ich.

„Doch eigentlich schon." Sie lachte und lehnte sich an mich. „Komm schon, tu nicht so bemitleidenswert! Ich habe kein Mitleid mit dir! Schliesslich bin ich diejenige, die bald als Glatzkopf durch die Spitalgänge spaziert."

Ich legte den Arm um sie. „Ich werde dir meine Mütze leihen: grau und mit einem fetten blauen Schriftzug Music. Steht dir bestimmt!", neckte ich sie.

„Hört sich verlockend an", entgegnete sie grinsend und schlug mir auf den Arm, als ich sie kitzeln wollte. So waren wir, ganz nach dem Motto, was sich liebt, das neckt sich.

„Mum will mir schon eine blöde Perücke machen lassen. Ne du, Haare waschen, die nicht auf meinem Kopf angewachsen sind, darauf kann ich echt verzichten. Dann lieber eine Mütze, die ich einfach in die Waschmaschine schmeissen kann."

Ich sah sie gespielt empört an. „So willst du also mit meiner heiligen Mütze umgehen."

Sie zuckte verschmitzt mit den Schultern. „Wenn du meine Perücke waschen willst, bitte! Ich mache das nicht!"

„Okay, okay, überzeugt! Du bekommst meine Music Mütze."

Wir alberten weiter, bis schliesslich jemand kam und mir sagte, dass die Besuchszeit um war. Ich verabschiedete mich von Jacky, die mich traurig in die Arme schloss.

„Viel Spass im Kino", sagte sie leise. Ich strich ihr über die Wange.

„Ich komme morgen wieder, mit Music Mütze, versprochen!", flüsterte ich ihr zu, bevor ich das Zimmer schweren Herzens verliess. Es war jedes Mal wie ein bisschen sterben, wenn ich sie dort zurücklassen musste, während sie mir traurig nachschaute.

Mein Lied für dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt