Kapitel 2

187 18 23
                                    

Natürlich war jeder Tisch besetzt. Mit dem Tablett in der Hand stand ich da und liess meinen Blick über die Leute schweifen. Ganz hinten entdeckte ich einen Tisch, an dem nur ein Mädchen sass, das völlig in ihr Buch vertieft war. Ich entschied, einen Versuch zu wagen und ging hin. Sie schaute kurz auf, als ich vor sie trat.

„Ist der Platz noch frei?", fragte ich sie und wies mit dem Kopf auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie nickte und nahm ihre Tasche weg. Ich stellte das Tablett hin und setzte mich. Sie hatte sich bereits wieder in ihr Buch vergraben. Lächelnd betrachtete ich sie. Sie hatte braunes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck Nickelback, ausgewaschene Jeans und dazu dunkelblaue Converse. Um ihr linkes Handgelenk waren etliche bunte Bändchen gebunden und an ihren Fingern steckten feine Ringe. Die Beine hatte sie übereinandergeschlagen und während sie las kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Ich beugte mich leicht vor, um den Buchtitel zu lesen. Vor Überraschung hätte ich beinahe gelacht. Es war dasselbe Buch, das ich vor einigen Jahren meiner Schwester vorlesen musste: Ein Jane Austen Roman, Stolz und Vorurteil.

Mit poetischer Stimme zitierte ich eine Stelle daraus und das Mädchen schaute erstaunt auf.

„Was?", fragte ich grinsend.

„Das ist echt seltsam", sagte sie nur, bevor sie sich wieder hinter ihrem Buch verbarg. Ich schaute sie unverwandt an. Sie spürte wohl meinen Blick auf sich ruhen. Ihre Augen folgten nicht mehr den Zeilen und irgendwann liess sie ihr Buch sinken.
„Okay, was ist dein Problem?", fragte sie mich direkt.

„Nichts, kein Problem", antwortete ich ihr unschuldig.

Sie kniff ihre blassgrünen Augen zusammen und musterte mich eingehend.
„Du hast mich angestarrt", bemerkte sie ruhig.

Ich zuckte mit den Achseln. „Ist das verboten?"

„Es ist unangenehm", antwortete sie schlicht.

„Wieso?"

„Keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Niemand fragt einen solche Dinge!"

„Doch, ich."

„Das merke ich!"

„Dafür, dass du Stolz und Vorurteil liest, bist du ganz schön rebellisch", sagte ich grinsend. Sie knallte ihr Buch so energisch zu, dass das Pärchen vom Nachbartisch verwirrt zu uns herüberschaute.

„Lass mich doch einfach in Ruhe!"

Damit stand sie auf und ging mit stolzen Schritten davon. Natürlich ohne ihre Tasche mitzunehmen.
„Hey, warte!", rief ich ihr nach und rannte ihr hinterher.

Sie drehte sich langsam zu mir um.
„Was?"
„Du hast deine Tasche liegen gelassen", erklärte ich ihr und hielt ihr die Tasche hin. Sie schien nicht recht zu wissen, was sie tun sollte.

„Danke", sagte sie schliesslich und nahm die Tasche entgegen.

„Nicht der Rede wert", wehrte ich lächelnd ab. Sie erwiderte mein Lächeln kaum merklich und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, doch sie schien leicht zu erröten unter meinem Blick.
„Na dann... Schönen Tag noch", murmelte sie und wendete sich ab.

Ich stand einfach nur da und schaute ihr nach, wie sie durch die Eingangstür verschwand. So viel zu meinem Vorsatz, mich keinem Mädchen mehr zu nähern...

Ich versuchte vergebens, das Lächeln von meinem Gesicht zu bekommen. Es war wie dort festgefroren. Obschon man nicht wirklich von frieren sprechen kann, wenn man innerlich fast verglüht. Ich verwarf all diese Gedanken wieder und setzte mich zurück an den Tisch. Die Kleine hatte etwas an sich, das mich faszinierte, aber ich würde sie nie wiedersehen, also wieso sich den Kopf zerbrechen?

Mein Lied für dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt