Kapitel 6

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  DER BALL flog wie ein grauer Blitz in einem hohen Bogen ins Unterholz und Benny rannte ihm nach.

Seine Schnauze durchwühlte die klammen Blätter, während er unermüdlich schnaufend nach der Spur suchte. Ein winziges Aststück geriet in seine Nase, löste drei herzhafte Nieser, woraufhin er so heftig den Kopf schüttelte, dass die Ohren schlackerten.

Er leckte den Dreck fort, bevor er tiefer ins Dickicht vorstieß, schneller, zielsicher über Steine und durch Büsche kletterte, vorbei an einem verlassenen Hasenbau, den einen oder anderen Vogel aufschreckend, für die er sich jedoch nicht interessierte.

DER BALL war wichtiger. Je schneller er ihn fand, desto schneller bekam er seine Belohnung und desto zufriedener war DER MANN, der ihn geworfen hatte.

Und Benny wollte, dass ER zufrieden war. Er mochte DEN MANN. ER roch nach Erde und Regen und Sonne und Luft und ARTGENOSSE. Jemand, mit dem man Spaß haben konnte und Benny war für allerhand Späße zu haben.

Die Fährte war jetzt so stark, dass er sie buchstäblich sehen konnte – Schwärme von flirrenden Partikeln, die in wirbelnden Spiralen auseinander stoben, als er mit hängender Zunge durch sie hindurch preschte.

Er konnte den Geruch im Wind schmecken, bevor er DEN BALL sah, sich auf ihn stürzte, ehe er fliehen konnte. In seinem Maul war ER gut aufgehoben. Stolz und erhobenen Hauptes trabte er zurück, wehrte geschickt die spielerischen Versuche seiner ARTGENOSSEN ab, ihm seine BEUTE zu stehlen, ohne sie dabei fallen zu lassen.

„Gut gemacht."

Natürlicherweise war das Sprachkonzept der Menschen zu abstrakt für sein primitives Gehirn, wichtiger war das Zusammenspiel von Tonlage und Gesichtsausdruck, das er sehr gut lesen konnte, aber es gab durchaus Worte, die er verstand.

GUT war eines davon. GUT bedeutet ZUFRIEDEN und das machte Benny glücklich.

Er setzte sich hin, bevor er DEM MANN das Stückchen Wurst aus der Hand leckte, welches so verlockend roch, dass ihm der Geifer von den Lefzen tropfte. Und er wusste, da war noch mehr. Er war äußerst bereit, DEN BALL erneut zu jagen, wenn es bedeutete, dass er MEHR davon kriegen würde.

Aber obwohl Benny DEN BALL mit der Schnauze auffordernd anstieß, hüpfte und bellte, schüttelte DER MANN den Kopf und guckte ernst auf ihn herab.

„Dein Herrchen ist dran, Kumpel."

DER MANN nickte mit dem Kopf, deutete hinter sich und Benny verstand sofort. Er spürte den Blick des ALPHATIERS wie Krallen, die sich in sein Genick gruben, absolute Unterwerfung forderten.

Vielleicht sollte er Angst haben.

Dem ALPHA haftete ständig ein latenter Blutgeruch an, der IHN wie düstere Nebelschwaden einhüllte. An manchen Tagen mehr, an manchen Tagen weniger, aber nie ganz fort. Benny wusste, dass er derjenige war, der sich unterordnen musste.

Was ihn jedoch nicht davon abhielt, SEINE Position täglich in Frage zu stellen.

Gerade die permanente Witterung von Eisen und Süßholz weckte Urinstinkte in ihm, die ihn rastlos werden ließen. Und furchtlos.

Der ALPHA streckte die Hand aus. SEINE Augen wirkten, ohne dass Worte benutzt werden mussten, die IHN unterstützten.

Benny verstand die Befehle, die ihm erteilt wurden und er wusste, was man von ihm erwartete, doch nicht immer deckte sich dieses Wissen mit seinen eigenen Bedürfnissen.

Er hatte keine Angst vor Machtspielchen. Er war ein mutiger Hund und so ließ er DEN BALL nicht los, als das ALPHATIER danach griff.

Im Gegenteil, er stemmte die Hinterläufe in den Boden, streckte sich, zog und zerrte an DEM BALL, während sein neues HERRCHEN – überrascht von dem Widerstand – seinerseits zog und zerrte.

Ein kehliges Knurren drang aus Bennys Gurgel, als er versuchte, die Hand abzuschütteln, die ohne Angst vor seinen Zähnen, tiefer in sein Maul vordrang, bis die Finger DEN BALL besser im Griff hatten.

Als es erst mal so weit war, hatte Benny keine Chance. Seine Bisskraft war nicht gerade schwach, doch der ALPHA war einfach stärker, benutzte die geschickten Finger, um seinen Kiefer aufzuzwingen.

Er verlor die Beute und sein HERRCHEN gewann an Respekt.

„Sitz."

Sein Hinterteil landete sofort auf dem Boden, als ob magische Kräfte an seinem Körper zerrten. Es war der gebieterische Blick, dem er sich nicht entziehen konnte, der Ton, die unantastbare Dominanz, welche ihn zu gleichen Teilen abstieß und anzog.

Ein frustriertes Bellen löste sich aus seiner Kehle. Seine Augen verfolgten den Arm, der weit ausholte.

DER BALL flog wie ein grauer Blitz in einem hohen Bogen ins Unterholz und Benny rannte ihm nach.


**

„Was hat der Zeuge gesehen?" fragte Hannibal, während er beiläufig seine Finger mit einem Taschentuch vom Hundespeichel befreite.
Der Geruch von Gras, nasser Erde und halbverdauten Würstchen stieg ihm in die Nase, ein Rumpeln in seinem Magen auslösend, welches seine Eingeweide verkrampfte. Er schloss die Augen und verhinderte ein Aufstoßen mit Atemübungen und bloßer Willenskraft.

Er würde sich wirklich gern die Hände waschen.

Will präsentierte ihm den Rücken. Er war damit beschäftigt, seine Hunde zu beschäftigen. Leckerlies, Ballspiele, Kommandoübungen. Ablenkungen.

„Ein Märchen", sagte Will, während er ausholte und den nächsten Ball warf, hinter den drei seiner Hunde herjagten. „Aber eins von der schaurigen Sorte, in dem der böse Wolf die Großmutter frisst. Bei lebendigem Leib."

„Könnte er den Täter wiedererkennen?"

„Hoffentlich. Jedenfalls wird der Junge wie ein Kronzeuge behandelt. Nach dem Artikel auf Tattle-Crime hat Jack ihn in ein Safe House geschickt."

Hannibal hatte die Fotos gesehen und in seinem Kopf abgespeichert, um sich jedes Detail, der mittlerweile gesperrten Bilder, nochmals vor Augen führen zu können. Miss Lounds verzichtete gänzlich auf schwarze Balken und Namensänderungen.

Wirklich ungezogen.

Aber unbestreitbar vorteilhaft.

Ein Safe House wurde auch nicht so streng bewacht, wie man annehmen müsste. Je nach Dringlichkeit rechnete er mit einem, höchstens zwei (eher unwahrscheinlich) Zivilfahrzeugen, in denen gelangweilte, erdnussfressende und kaffeeverschleißende Beamte ihre Schicht ab saßen.

„Ich bin überrascht, dass Jack dir frei gegeben hat."

Will lachte humorlos. „Wenn es nach ihm ginge, würde ich das FBI-Gebäude nur verlassen, um den Ripper festzunehmen."

Hannibal ließ daraufhin ein schmales Schmunzeln zu.

„Wie bist du ihm entkommen?"

„Solange Zeller und Price die Leiche untersuchen, hab ich freie Fahrt. Im Augenblick bin ich wenig hilfreich."

Er drehte sich um, sein Blick geisterte über Hannibals Gesicht – zum ersten Mal an diesem Tag – und verweilte schließlich auf Kinnhöhe.

„Ich kann nicht klar denken. Ich brauche Abstand."

Hannibal öffnete den Mund, doch Will wandte sich wieder ab. Das war eine Mauer, die da gerade aufgezogen wurde und Hannibal kam nicht umhin anzunehmen, dass diese nur zur Hälfte mit dem Fall zu tun hatte, der Will gerade zu schaffen machte.

Die Schatten unter seinen Augen zeugten einmal mehr von schlaflosen Nächten. Hannibal bezweifelte, dass er in den letzten 24 Stunden eine vernünftige Mahlzeit zu sich genommen hatte, oder überhaupt irgendetwas, außer Kaffee und Aspirin.

Das goldene Zwielicht der Abendsonne zauberte gleißende Strähnen in Wills braune Locken, eine helle Corona bildend, die in ihrer heiligen Symbolik beinahe Hannibals Augen blendete.

Ein Moment, der es verdiente, auf Papier gebannt zu werden. Er war sich fast gewiss, dass er sich die Finger an diesen Haaren verbrennen würde, wenn er sie jetzt berührte, doch er bekam nicht die Gelegenheit, es auszuprobieren.

Will veränderte seine Position und der Effekt verschwand. Er entfernte sich von ihm. Buchstäblich und im übertragenen Sinne.

„Du weißt, was in den Tabletten ist."

Will hielt inne, zog die Schultern hoch, ehe er sie mit einem langen Seufzen wieder entspannte. Er drehte sich um und ignorierte den Hund, der sich an seinem Hosenbein rieb, schenkte Hannibal seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Ja."

Hannibal nickte. Er war stolz.

„Du bist nicht wütend."

„Nein."

„Warum nicht?"

Will verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Oh, versteh mich nicht falsch. Ich bin schon wütend."

Die Ruhe, die er ausstrahlte, ließ ihn gefährlich wirken. „Überraschenderweise bin ich aber viel wütender auf mich, als auf dich. Und das macht mich noch wütender."

Hannibal wich nicht zurück, als Will langsam auf ihn zu ging. In seinen Augen tobte ein grauer Sturm, der darauf wartete, auszubrechen. Er war faszinierend anziehend in seinem Zorn.

„Weil ich die Tabletten schon lange nicht mehr nehme und die Träume trotzdem schlimmer werden."

Ein Schritt, zwei Schritte, noch einer.

Wills Augen verengten sich zu Schlitzen und eine Falte erschien auf seiner Stirn. „Weil mein Körper mich betrügt, Morgen für Morgen, Nacht für Nacht."

Hannibal hielt die Luft an, als Will wenige Zentimeter vor ihm stoppte, seinen Atem auf der Haut spürte. „Weil ich deine Stimme nicht mehr aus meinem Kopf kriege."

Will presste die Lippen zusammen, teilte sie mit der Zunge, neigte den Kopf leicht zur Seite. „Oder tun wir noch so, als ob du das nicht von Anfang an gewusst hast?"

Jedes Wort, jede Silbe hatte scharfe Kanten, die einschnitten, provozierend, verletzend. Aber der gute Will verstand nicht, dass er sich selbst viel mehr weh tat, als ihm.

„Mir war bewusst, dass du gewisse Bedürfnisse unterdrückst und ich hatte die Mittel, dir zu helfen."

„Hast du mich deswegen geküsst?" fragte Will und runzelte die Stirn, während sein Blick Hannibals Mund streifte. „Weil du wissen wolltest, was passiert?"

„Ich habe dich geküsst, weil du so aussahst, als ob du geküsst werden möchtest."

Will lachte überrascht und frustriert. „Dein Pragmatismus ist bemerkenswert erlesen in seiner Grausamkeit!"

„Du hattest die Wahl. Es erscheint mir ungewöhnlich infantil, mich für deine Entscheidungen verantwortlich zu machen."

Will zuckte zurück, so als hätte er erkannt, dass er einer Königskobra gegenüberstand, der er zu lange in die Augen gestarrt hatte.

Und dennoch blieb ein ungläubiges Lächeln in seinem Gesicht, als er sagte. „Du hast recht und ich bin unfair."

Er setzte einen Schritt zurück, betrachtete Hannibal im Ganzen. Seine Blicke waren wie kühle Fingerspitzen, die ihn abtasteten, seine Haut selbst unter all den Stoffschichten entflammten.

„Es wird Zeit, dass wir über meine Träume reden, Dr. Lecter."

Hannibals Kehle wurde trocken. „Und wo fangen wir an?"

„Mit dir", antwortete Will. „Auf den Knien."




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