Selbstverständlich wollte Hannibal mit ihm über die Ereignisse des Abends sprechen, doch Will weigerte sich. Die Wunde war noch frisch, sie nagte an ihm und er wollte sie nicht benennen, ihr nicht noch mehr Gewicht geben.
Der unerklärlichen Verantwortung, die er fühlte und der Schuld.
Nicht heute Nacht.
Hannibal gab ihm zwei Optionen: Frisch gebrühter Tee in der Küche, oder Rotwein im Kaminzimmer.
Will zögerte nicht, als er sich für den Tee entschied.
Tee war sicher. Tee war kein Alkohol. Sie würden ihn in der Küche einnehmen, die so klinisch hell erleuchtet war, dass auf der Anrichte jeder Zeit eine Operation am offenen Herzen vollzogen werden konnte.
Und es war herrlich abstrakt, dass diese Vorstellung nicht mal unmöglich war. Hannibal wäre dazu in der Lage. Will wusste das. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen.
Es war nicht so, dass die Entscheidung zu Gunsten des Heißgetränks deswegen ausfiel, weil er sich als besonderen Teeliebhaber betrachtete. Die Wahl war eine praktische. Teezubereitung brauchte Zeit und Zeit war es, die Will sich damit erkaufte.
Die er brauchte, um herauszufinden, warum zum Teufel er bei Hannibal war und nicht zu Hause bei seinen Hunden in Wolf Trap.
Die erste Antwort darauf war zugleich die einfachste, weil sie der Wahrheit entsprach: Will wollte nicht nach Hause. Zu Hause wäre er allein mit seinen Gedanken. Das war gewiss nichts neues und früher hatte er damit keine Probleme gehabt.
Er ist klar gekommen. Vielleicht nicht ganz ohne Hilfe seiner guten, alten Freunde namens Jack Daniels und Ibuprofen 800, aber es war okay.
Doch dieses Früher war so weit weg, so lange her, dass er sich nur noch wage an dieses Leben erinnern konnte. Er wusste nicht mal mehr, was genau er selbst für eine Person gewesen sein muss, die so gelebt hat.
Wobei man es nicht als Leben betrachten darf, wenn man bloß existierte.
Früher – nein – vor Hannibal Lecter war er einfach allein und heute wusste er, was Einsamkeit ist und wie sie sein würde, wenn er sich diese Nacht in sein Bett legte und stundenlang die Decke anstarrte, bevor Erschöpfung ihn übermannte, in einen unruhigen Schlaf gleiten ließ, aus dem er schreiend und schweißgebadet wieder aufwachte.
Es gab natürlich keine Garantie.
Dass er in Hannibal Lecters Haus nicht ebenfalls von Albträumen geplagt wurde.
Die Wahrscheinlichkeit war so hoch, dass man sie als Gewissheit bezeichnen konnte.
Und doch war der Gedanke tröstlich, zu wissen, dass jemand da sein würde, wenn es passierte, dass nach dem Erwachen die klamme Orientierungslosigkeit nicht weichen wollte, der Traum sich nicht abschütteln ließ, zu einem Teil von ihm wurde, der sich in ihm einnistete, wie ein Parasit, der sich durch seine Hirnwände von innen nach außen fraß.
Der zweite Grund war in seiner Lebendigkeit viel profaner: Sex.
Ein Teil von ihm – der Teil, der ja zu Rotwein und Kaminzimmer gesagt hätte, wollte alles und er wollte es sofort. Hirn ausschalten, Augen schließen und dem Körper die Kontrolle übergeben.
Hannibal die Kontrolle geben.
Warum nicht?
Mental war er vorbereitet. Mehr als das. In seinen Träumen hatte er es bereits getan, hunderte Male, jedes Mal anders, jedes Mal unglaublich gut.
Und unglaublich unbefriedigend, denn Fantasie blieb Fantasie. Unerfüllte Wünsche und Hoffnungen.
Fantasie wirkt aber auch in die andere Richtung. Immerhin hatten sich jetzt Vorstellungen in seinem Kopf manifestiert, denen Hannibal vielleicht nicht gerecht werden konnte. Oder wollte.
Die Angst vor Ablehnung war da, immer. Lungerte wie ein ungebetener Gast auf der Ausklappcouch in einer düsteren Ecke seines Geistes, um ihn mit unliebsamen Kommentaren aus dem Off zu schikanieren.
Du bist verrückt.
Du bist nicht gut genug.
Du bist langweilig.
Widerlich.
Bemitleidenswert.
Auf einmal war er wieder dreizehn und versuchte stotternd ein Mädchen zum Tanz aufzufordern, immer mit der Angst im Nacken, sie könnte in schallendes Gelächter ausbrechen und mit dem Finger auf ihn zeigen.
Aber er war nicht mehr dreizehn, das war schon verdammt lange her und Hannibal war kein Mädchen, sondern ein Mann.
Ein Mann, der in der Küche eine verboten gute Figur machte.
Will stand vor der Anrichte, die – mitten im Raum stehend – ihn von Hannibal trennte wie eine Insel. Er beobachtete die geübten Handgriffe seines Gastgebers, wobei er sich selbst ziemlich unnütz vorkam. Er hatte seine Hilfe angeboten, welche Hannibal aber nur mit einem subtilen Lächeln abgelehnt hatte.
Natürlich.
Schließlich wurde ihm das Getränk in einer dampfenden Tasse gereicht.
Der Tee war heiß und kräftig und ungesüßt.
Will mochte keinen Ingwer. Eigentlich. Doch er konnte nicht leugnen, dass die Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, auch eine beruhigende Wirkung hatte. Die milde Schärfe klärte seinen schwirrenden Kopf und in Kombination mit der Minze schmeckte das Getränk erstaunlich gut.
Hannibal beobachtete ihn und während die Skepsis unweigerlich aus Wills Gesicht verschwand, breitete sich auf Hannibals spitzen Zügen ein Lächeln aus. Früher hätte er gedacht, dass es das Lächeln eines Gastgebers war, der sich darüber freute, dass es seinen Gästen schmeckte.
Und das stimmte. Zum Teil.
Doch der deutlich größere Teil dieses Lächelns, so erkannte Will in einem Anfall von Erleuchtung, war einzig und allein mit seiner Selbstgefälligkeit beschäftigt. Er verlor sich geradezu in ihr.
Will konnte es ihm nicht besonders übel nehmen.
Der Tee war gut.
„Danke", murmelte Will in die Tasse.
„Gern geschehen", erwiderte Hannibal. Er trocknete sich die Hände mit einem Geschirrhandtuch ab, während Benny aufmerksam zu seinen Füßen saß, seinen Herren keine Sekunde aus den Augen ließ.
Das brachte Will zum Schmunzeln. „Er vergöttert dich."
Hannibal hob die Augenbrauen und blickte das Tier auf dem Boden an. Der Hund grinste, während er die lange, rosa Zunge wie einen nassen Lappen aus dem Maul hängen ließ. Speichel tropfte auf die Fliesen.
„Daran besteht kein Zweifel."
Will verschluckte sich fast an seinem Tee, als er versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen. „Du hasst das, oder?"
Hannibal wurde starr, nicht lange, vielleicht nur eine Sekunde, bevor sein Gesicht wieder weicher wurde und vielleicht wäre es einem ungeübten Beobachter gar nicht aufgefallen, aber Will fiel es auf. Für ihn war es so deutlich, dass er es nicht übersehen konnte.
„Hass ist ein ziemlich starkes Wort."
„Der Geruch, die Haare, der Sabber, der dir gerade den frisch gefeudelten Fußboden ruiniert. Wie schwer fällt es dir, nicht sofort nach einem Desinfektionsspray zu greifen, um den Dreck sauber zu machen?"
„Entlarvt mich mein Sinn für ein gewisses Maß an Ordnung und Sauberkeit gleich als Tierhasser?"
Will überging die Frage. „Ich verstehe nur nicht, wieso." Er lief mit der Tasse in der Hand ziellos durch die Küche, ließ Hannibal hinter sich. „Wieso der ganze Aufwand? Warum die Mühe?"
Meinetwegen.
Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz. Will schnappte nach Luft und drehte sich auf dem Absatz herum, irgendetwas in Hannibals Gesicht suchend, dass seinen Gedankengang Lügen strafte.
Doch dieser blickte nur zurück, eine Marmorstatue der Ruhe und Gelassenheit.
„Du hast dir einen Hund angeschafft, um mich zu beeindrucken?"
In seinem Kopf klang das logischer. Als er es aussprach, wurde es absurd. Hannibal hob das Kinn an, den Kopf leicht zur Seite neigend. Will erinnerte diese Geste an einen Raubvogel, kurz vorm zu hacken.
„Hat es funktioniert?"
Will ignorierte die Hitze, die seine Wangen ausfüllte und das halbe Lächeln, dass sich währenddessen auf Lecters Gesicht ausbreitete.
„Manch einer würde behaupten, dass es ziemlich", Will leckte sich über die Lippen, „eigensinnig wäre. Wenn nicht sogar verschroben."
Hannibals Lächeln vertiefte sich, aber es war ein kühles Lächeln und seine Augen wurden zu glanzlosen Murmeln in seinem Schädel.
Will fühlte einen Schauer über seine Wirbelsäule kriechen.
„Die Standards anderer Menschen tangieren mich extrem peripher, Will."
In einer fließenden Bewegung überbrückte Hannibal die Distanz zwischen ihnen, beängstigend schnell und stand plötzlich vor ihm, so nah, dass Will seine Körperwärme spüren konnte. Er merkte erst, dass er den Atem angehalten hatte, als seine Lungen sich mit einem wütenden Brennen in der Brust beschwerten.
Will klammerte sich an seinem Becher fest – der Tee wurde kalt und war längst vergessen – hielt ihn wie einen Schutzschild vor seine Körpermitte, hoffte das beste.
Der Hund war ihm keine Hilfe. Soweit Will das sehen konnte, saß Benny in der Ecke und putzte sein Fell.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet."
Keine Drohung, eine Feststellung mit einer gewissen Neugier behaftet. Will schluckte, sein Mund war so trocken wie die Wüste Gobi.
„Hat es funktioniert?"
Will nickte langsam. Der Gedanke war ohne Zweifel niederträchtig, aber äußerst verführerisch und auf eine Art und Weise sein Ego streichelnd, welches ein Prickeln in seiner Lendengegend auslöste, für das er sich schämen sollte.
Hannibal gab ein zufriedenes Summen von sich und entfernte sich mit einem Schritt aus Wills Behaglichkeitszone.
Beinahe hätte er seine Enttäuschung mit einem gutturalen Laut geäußert, aber er biss sich auf die Lippen.
„Ich habe dir das Gästezimmer vorbereitet", sagte Hannibal in seinem gewohnt höflich distanzierten Tonfall. „Ebenfalls Kleidung für die Nacht. Der Raum verfügt über ein Bad mit Dusche und WC."
Soviel zum Thema Sex, dachte Will.
Doch sein Kampfgeist war geweckt.
Das wollen wir doch mal sehen.
*
Er hörte Will bereits auf der Treppe.
Er war leise, höchstwahrscheinlich lief er barfuß oder auf Socken, aber nichtsdestotrotz gab das dumpfe Knarren der Stufen unter seinem Gewicht sein Kommen preis.
Die Tür zu seinem Schlafzimmer ging langsam auf. Es trat kein Licht durch den geöffneten Spalt, auch im Flur war es dunkel. Ein Luftzug brachte nicht nur Kälte mit, die eine Gänsehaut auf seiner nackten Brust auslöste, sondern auch Wills Geruch nach frisch gewaschenen Haaren, Duschgel und einem Aftershave, das ausnahmsweise nicht aus einer Flasche mit einem Schiff auf dem Etikett stammte, weil es Hannibal gehörte.
Pour Homme, ein anspruchsvoller, zeitloser Duft, der sich in seiner Unaufdringlichkeit ausgesprochen wunderbar mit Wills natürlichem Körpergeruch paarte.
Ganz genau so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Auch wenn Will eindeutig einen Tropfen zu viel verwendet hatte. Eine sparsame Dosierung genügt vollkommen für die volle Entfaltung des Bouquets. Bei 80 Dollar pro 100 Milliliter sollte das auch vorausgesetzt sein.
Unter der Decke aus Parfüm und Seife hatten sich Wills Poren erneut geöffnet. Seine Haut war von einem dünnen, frischen Schweißfilm bedeckt, der nach Angst roch, aber auch nach etwas anderem. Aufregung.
Hannibal konnte die Nervosität in der Luft schmecken.
Will zögerte, bevor er den Raum betrat.
Er lag auf der Seite und hielt die Augen geschlossen, weiterhin darauf achtend, dass sein Atem ruhig und gleichmäßig blieb.
„Du bist noch wach", sagte Will schließlich mit belegter Stimme. Als er schluckte, löste der Kloß in seinem Hals ein hörbares Klicken aus.
Bemerkenswerter Junge, hatte sich nicht einen Augenblick lang täuschen lassen. Hannibal lächelte.
„Ebenso wie du", antwortete er, ohne die Augen zu öffnen.
Will entließ angestaute Luft in einem zitternden Atemstoß. „Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen."
Hannibal drehte sich auf den Rücken und blickte aus halbgeöffneten Lidern in die Dunkelheit. Wills Gestalt war ein schemenhafter Schatten, der an seiner Bettkante stand. Hannibal ließ sich von den sturmblauen Augen abtasten, die wie kühle Fingerspitzen seine Haut liebkosten.
Er schob einen Arm in den Nacken, streckte den Rücken durch und beobachtete das Aufblitzen einer Zunge, die trockene Lippen befeuchtete.
„Albträume?"
Will schüttelte den Kopf, eine stumme Verneinung, aber sein Atem ging schwer, sein Brustkorb hob und senkte sich merklich. Hannibal bot seine Hand an, die Fläche nach oben zeigend und es dauerte nicht lange, bis sich Wills Finger durch seine schoben.
Da stand er nun, in dem Hemd und der Unterwäsche, die Hannibal für ihn gekauft hatte und der Anblick war magisch in seiner Befriedigung.
Will war zu ihm gekommen, wie er es erwartet hatte. Aus freien Stücken. Das war wichtig. Äußerst wichtig sogar. Test bestanden.
„Nun denn, Will, hast du einen Vorschlag, wie wir dich auslaugen könnten?"
Die Finger, die Hannibals Hand umklammerten, drückten fest zu.
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Dein bester Freund
FanfictionHannibal ist auf den Hund gekommen, um Will zu beeindrucken, allerdings scheint dieser sich viel mehr für das Tier zu interessieren als für ihn. Oder doch nicht?