Kapitel 7

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  Hannibal betrachtete den Boden zu seinen Füßen, die feuchte Erde, das klamme Gras, die Zweige und verwitterten Laubreste vom vergangenen Herbst.

Seine helle Leinenhose bestand zu hundert Prozent aus Flachs, ziemlich leger für seine Verhältnisse. Dem Anlass entsprechend aus der letzten Saison, eigentlich nichts, was er nochmal anziehen würde.

Und dennoch.

„Wörtlich oder im übertragenen Sinne?"

„Ich will, dass du dich hinkniest."

Es sind schon Leben für geringere Dreistigkeiten ausgelöscht worden, Will allerdings löste nie den erwarteten Ekel vor Banalitäten in ihm aus.

Wenn Hannibal ihn eines Tages töten sollte – eine Möglichkeit über die er oft und lange schon sinniert hatte – dann höchstwahrscheinlich, weil er seine Freiheit gefährdet sah.

Bis dahin war eine Welt, in der Will Graham existierte, eine wesentlich interessantere.

„Jetzt?"

„Jetzt. Hier. Auf den Boden."

„Zu welchem Zweck, wenn die Frage erlaubt sein darf?"

Will lehnte den Kopf zurück und streckte das unrasierte Kinn vor, entblößte seine Kehle, die blank und schutzlos in Hannibal das Bedürfnis weckte, sich in sie zu verbeißen, die Schärfe seiner Zähne an der empfindlichen Haut zu testen.

Es war keine Geste der Unterwerfung. Unterwerfung forderte Will von ihm ein. Es war eine Aufforderung.

Eine Provokation.

Komm doch.

„Ich verlange eine Entschuldigung. Und ich bin davon überzeugt, dass dir Demut ganz gut zu Gesicht steht. Vielleicht kann ich dir dann vergeben."

„Kann Vergebung, die an Bedingungen geknüpft ist, wahrhaftig sein?"

Will lachte, ein Schnaufen ohne jeden Sinn für Humor. „Es gibt so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt. Ein persönliches Konzept."

„An dem du kein Interesse hast."

„Ich bin an der Geste interessiert. Mir gefällt der Gedanke." Eine Pause. „Und dir gefällt er auch."

Eine interessante Behauptung, gegen die Hannibal etwas einwenden wollte, doch stattdessen hielt er inne und lauschte zwei Sekunden in die Stille, ehe sein Herzschlag wieder einsetzte.

„Wenn Aufrichtigkeit zweitrangig ist, kannst du mich genau so gut zwingen."

Will war schnell, beeindruckend für einen Ex-Polizisten, der sich seit Jahren nicht mehr im Training befand. Er zögerte keine Sekunde.

Zwei Schritte genügten und er war bei ihm, doch ehe die Hand nach seinem Hals greifen konnte, wich Hannibal zur Seite aus und die Finger bekamen nichts weiter zu fassen als die Luft, die sie aufwirbelten.

Will ließ sich nicht beirren, drehte auf dem Fuße und schob sein Knie zwischen Hannibals Beine, in dem Bestreben, ihn zu Fall zu bringen. Auch hier genügte ein Schritt zurück, um dem zu entgehen, was Will beinahe aus der Balance warf, aber ein beherzter Griff an der Schulter seinerseits verhinderte einen Sturz.

Es war ein Tanz, den Hannibal führte, während Will den Takt bestimmte. Ein Drehen, sich winden, als ihre Körper aufeinanderprallten, sich abstießen, wieder trafen, während sie nichts hörten, außer ihren Atem, der stoßweise kam, das Rascheln von Stoff, ihre Füße, die über den Boden schabten.

Er könnte es beenden, hier und jetzt. Will hatte Kraft, aber diese würde er leicht gegen ihn verwenden können.

Die Tricks, die seine Tante ihm beigebracht hatte, erwiesen sich immer noch als äußerst nützlich, doch er sah keinen Grund, Will wissen zu lassen, dass er die Grundlagen des Aikido beherrschte. Er hielt es sogar für gefährlich.

Solche Auffälligkeiten würde Wills außergewöhnlicher Geist aufsaugen wie ein Schwamm und irgendwo in einer dunklen Ecke abspeichern, um es eines Tages abzurufen, was ihm zum Verhängnis werden könnte.

Und war es nicht seltsam selbstzerstörerisch, das ein Teil von ihm sich nichts sehnlicher wünschte, als das Will Graham die richtigen Schlüsse zog und ihn erkannte? Bei diesem Gedanken sein Herz verkrampfte, nur um in freudiger Erwartung mit hohem Tempo die Schläge wieder einzusetzen?

Aber dieser Tag war nicht heute.

Als Will es gelang, ihm ein Bein zu stellen, ließ Hannibal sich fallen, packte ihn am Kragen und nahm ihn mit sich.

Er landete auf dem Rücken und biss sich auf die Zunge, als Wills Kopf mit seinem Kiefer kollidierte. Der Geschmack von Metall erfüllte seinen Mund. Seine Lippen teilten sich, um nach Luft zu schnappen, wurden jedoch augenblicklich mit einem harten Kuss wieder verschlossen.

Will war fordernd und unnachgiebig, gestattete kein Ausweichen, legte seine gesamte Stärke in diese Umarmung, presste ihn mit seinem Gewicht in den feuchten Rasen, dessen Nässe bereits seine Textilien durchtränkte und ihm blieb nichts anderes übrig, als mitzuhalten.

Oder verschlungen werden.

Da waren Hände, die sich in seine Seiten krallten, während der Mund ihm den Sauerstoff aus den Lungen saugte, bis Sterne vor seinen Augen tanzten. Hannibal fing Wills Gesicht ein, hielt ihn fest, um ihn in Schach zu halten, um ihn heranzuziehen, näher, noch näher, bis nichts mehr ging, bis er nicht mehr wusste, wo er aufhörte und Will anfing.

Mit einer Faust in den Haaren zog er Wills Kopf zurück und der Laut, der dabei seiner Kehle entschlüpfte, sanft und enttäuscht und verzagt, ähnelte einem Hund, der von seinem Herren am Kragen gepackt wurde und nicht wusste, wieso.

„Fühlst du dich jetzt besser?"

Will biss sich auf die Unterlippe, die feucht vom Speichel glänzte, die Augen auf Halbmast gesenkt, verklärt und neblig. Hannibal öffnete die Beine, damit Will Platz hatte und nach einer Weile, in der sich sein erhitztes Gemüt beruhigen konnte, schmiegte er sich wie eine Katze zwischen die Schenkel, begrub sein Gesicht an Hals und Schulter.

Nicht ohne kurz durch den Stoff in das empfindliche Fleisch zu beißen.

Was Hannibal stumm kommentierte.

„Du denkst, du kannst mich spielen, wie eine Fidel, Hannibal. Und du bist gut in dem, was du tust. Aber ich bin kein Instrument."

„Ich höre dir zu", sagte er, während seine Fingerspitzen geruhsam durch die braunen Locken pflügten.

„Hör ganz genau zu, falls dir meine Verstimmung nicht aufgefallen sein sollte."

Wieder ein Biss in die Schulter, eine Hand, die sich schmerzhaft in seine Hüfte krallte. Hannibal lächelte, als er sein Becken verschob und Kontakt mit dem anderen Unterleib aufnahm.

„Die Verstimmung ist deutlich zu spüren."

Ein Knurren an seinem Hals und doch drängte sich ihm der Körper entgegen. Hannibal beschloss, diese außerordentlich gegensätzlichen Reaktionen weiter auszureizen.

„War das bereits ein Teil deiner Fantasie?" Er ließ seine Hand über Wills Rücken Richtung Süden gleiten und genoss jedes Erschauern, das er auslöste. „Ich auf den Knien? Unter dir, so wie jetzt?"

Will hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. „Das war ein Anfang."

„Und wo wird es enden?"

„Das willst du nicht wissen."

„Solche Entscheidungen kannst du mir überlassen."

„Was, wenn ich dir sage, dass ein Halsband involviert ist?"

„Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass es dich vorzüglich kleiden würde."

Will lachte. Es war das erste, ehrliche Lachen des Tages. Sein Körper vibrierte und es dauerte eine Weile, bis Hannibal verstand, warum.

Wills Telefon klingelte. Er angelte es umständlich aus der Hosentasche, noch nicht bereit, seine Position grundlegend zu verändern. Sein Blick verdüsterte sich sofort, als er auf das Display sah und Hannibal musste kein Hellseher sein um zu wissen, dass Jack Crawford anrief.

Entweder hatten sie jemanden festgenommen oder eine Leiche gefunden.


**

„Es war nicht der Chesapeake Ripper."

Jacks Blick durchbohrte ihn wie ein Speer, aber Will konnte mit seiner Wut nichts anfangen. Er war mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt.

Der Tatort ähnelte einem Schlachtfeld. Niemand konnte sich erklären, wie der Täter sich Zutritt zum Safe House verschafft hatte und erst recht nicht, wie er ungesehen wieder verschwinden konnte.

Doch Will genügte ein Blick in die Augen der übermüdeten Beamten, die wahrscheinlich eine Doppelschicht hinter sich hatten. Der Staat spart halt, wo er kann. Sie konnten sich glücklich schätzen, dass sie noch am Leben waren, wenn jemand nach Wills bescheidener Meinung fragen sollte.

Allerdings glaubte er auch, dass es bald zwei Leichen mehr geben würde, wenn sie nicht zügig das Weite suchten. Jacks Gesicht war eine Landschaft aus Granit.

„Wer war es dann?"

„Wer auch immer den armen Mann im Park ausgeweidet hat."

„Jemand muss ihm einen Tipp gegeben haben," sagte Hannibal. Seine Stimme klang so ruhig wie immer, während er das Grauen betrachtete, in dessen Zentrum sie sich befanden.

Manchmal wusste Will nicht, ob er diese Stabilität beruhigend oder alarmierend finden sollte. Im Augenblick wusste er nur, dass er froh war, ihn bei sich zu haben.

Wenn das nicht gruselig genug war, brauchte er nur die mit Blut bespritzten Wände zu betrachten, die in ihrer chaotischen Schönheit ebenso gut in einem Museum für abstrakte Kunst stehen könnten.

„Diese Tat war emotional, Jack. Dieser ganze Raum ist aufgeladen mit... Gefühlen." Sein Magen verkrampfte sich. Er vermied es, Aarons verstümmelte Leiche zu betrachten. Hinter seinen glasigen Augen waren stumme Schreie eingesperrt.

„Niemand kann so ein Blutbad veranstalten, ohne sich dabei schmutzig zu machen. Er muss jemandem aufgefallen sein. Sie werden ihn finden, Jack."

Damit drehte Will sich um und verließ das Haus. Er wartete nicht darauf, ob Hannibal ihm folgte, als er in den Bentley einstieg und das musste er auch nicht. Er war stets zwei Schritte hinter ihm.

Und als würde Hannibal seine Gedanken lesen, was er irgendwie konnte, davon war Will überzeugt, fragte er: „Soll ich dich nach Hause fahren, oder...?"

„Oder", unterbrach Will.

Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er sah nichts als rot.  



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