Kapitel 1

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Heute beginnt mein persönlicher Weltuntergang. Heute werde ich mein altes Leben hinter mir lassen, mit all meinen Freunden, Lieblingsorten und allem, was mir je etwas bedeutet hat. Dies denke ich mir, als ich an diesem Morgen meine Augen aufschlage und in mein halbleeres Zimmer blicke. Die meisten Möbel sind entweder schon im Umzugswagen oder weggeschmissen worden, wie mein Leben, welches meine Mutter vor zwei Monaten komplett zerstört hat. Damals saßen wir gerade beim Abendessen, als sie mir plötzlich, nachdem sie einen großen Schluck Wein aus ihrem Glas getrunken hat, sagte, dass sie eine neue Arbeit gefunden hat. Zuerst freute ich mich für sie, bis sie die große Bombe platzen ließ. Seit diesem Moment ist nichts mehr so wie es war. Am liebsten würde ich mich für den Rest meines Lebens einfach unter meiner Decke verkriechen. Aber das geht ja leider nicht, dafür würde meine Mutter sorgen. Deswegen stehe ich seufzend auf und beginne mich fertig zu machen. Als ich fertig bin, sehe ich mich noch ein letztes Mal in meinem Zimmer um, in dem ich seit siebzehn Jahren gelebt habe. Tausend Erinnerungen schießen mir durch den Kopf. Meine künstlerische Phase im hohen Alter von 4 Jahren, in welcher ich mir gedacht habe, dass meine eine Zimmerwand viel schöner wäre, wenn ich sie mit Buntstiften bekritzeln würde. Mein erster Kontakt mit Alkohol, der leider kein schönes Ende hatte, wie der kleine Fleck im Teppich beweist. All diese Erinnerungen werde ich zwar mit in mein neues Leben nehmen, aber nichts wird mehr sein, wie es war. Zum hundertsten Mal in den letzten zwei Monaten schießen mir die Tränen in die Augen. Tapfer versuche ich den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat herunterzuschlucken. Schließlich drehe ich mich entschlossen um und verlasse zum letzten Mal mein Zimmer. Ich stolpere die Treppen runter und finde meine Mutter in der Küche. "Guten Morgen, mein Schatz. Gut geschlafen?", fragt sie. Wie schon oft in letzter Zeit steigt heiße Wut in mir auf, wie Lava, welches ich ihr entgegen spucken will. Was denkt sie sich eigentlich? Meint sie wirklich, dass ich in meiner letzten Nacht in meinem alten Leben gut schlafen konnte? Am liebsten würde ich ihr das sagen, doch stattdessen schlucke ich die heiße Lava herunter. "Passt schon.", antworte ich ihr stattdessen. Nervös streicht sie sich eine Strähne ihrer schulterlangen Haare hinters Ohr. "Ich hab dir Wasser aufgekocht." Um ihre Worte zu verdeutlichen, zeigt sie auf den Wasserkocher und die Tasse mit einem Teebeutel darin. Ich schnappe mir den Wasserkocher und schütte das sprudelnd heiße Wasser hinein, dann setze ich mich an den Tisch und wärme meine Hände an der Tasse. Keiner von uns beiden weiß, was er sagen soll, darum schweigen wir uns an. Irgendwann stößt meine Mutter einen lauten Seufzer aus: "Melanie, bitte hör auf mich mit diesem urteilenden Blick anzustarren. Ich weiß, die Situation hier ist nicht optimal, aber ich bin mir sicher, dass du dich mit der Tanzschule anfreunden wirst. Gib dem ganzen doch bitte eine klitzekleine Chance." Nun kann ich die Wut nicht mehr zurückhalten: " Die Situation ist nicht optimal?", ein bitteres Lachen kommt über meine Lippen. "Das kann man wohl sagen. Ich muss für dich alles aufgeben, mein ganzes Leben, nur damit du so eine beschissene Rektorin an irgendeiner Tanzschule für Snobs werden kannst und das auch noch am anderen Ende von Deutschland." Den letzten Teil schreie ich heraus. Ich sehe wie die Hand meiner Mutter hochgeht, sich jedoch im letzten Moment besinnt und sie langsam wieder fallen lässt. Stattdessen steht sie auf und geht zur Haustür. "Komm, das Taxi ist gleich da.", meint sie traurig.




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