Kapitel 8

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Langsam schlendere ich die Gänge der Schule, auf der Suche nach dem richtigen Raum, ab. Ich habe keine Eile und auch kein großes Interesse diesen zu finden. Doch ich weiß, dass ich mich letzten Endes dem Stellen muss, was auch immer auf mich wartet. „213, 214...", zähle ich die Nummern der Türen ab. Da meine gesuchte Nummer die 220 ist, werde ich noch ein wenig langsamer. Schließlich bleibe ich vor der besagten Türe stehen. „Ich könnte immer noch umdrehen.", denke ich mir. „Ich könnte eine Krankheit vortäuschen." Dies ist wieder einmal ein gutes Beispiel dafür, dass Not erfinderisch macht. Doch was soll ich sagen? „Wegen akuter Angst vor dem Tanzen, ist in mir eine Übelkeit ausgebrochen, die mich leider daran gehindert hat am Tanzunterricht teilzunehmen." Sehr überzeugend. Ich seufze melodramatisch. Zudem würde ich das eigentliche Problem so nur heraus zögern und nicht beseitigen. Inmitten meines Gedankenflusses wird plötzlich die Türe aufgerissen. Verdattert blicke ich in das Gesicht einer Frau mittleren Alters. „Du bist sicher Melanie, nicht wahr?", strahlt sie mich an. Ich bin so überrumpelt, dass ich nur ein mickriges „Ja" herausbekomme. „Na dann komm mal rein in die gute Stube.", sagt sie und zieht mich währenddessen durch die Tür geradewegs in meinen Untergang. Der Raum, in dem ich nun stehe, sieht aus wie die Umkleidekabine meiner alten Schule. Nur das Graffiti an den Wänden und der muffige Gestank nach Schweißsocken fehlen. Von einem weiteren Zimmer ist gedämpfte Musik zu hören. „Wir mussten leider schon ohne dich anfangen.", entschuldigt sich die Frau und zeigt mir mit einem Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk, dass ich viel zu spät bin. „Zieh dir einfach schnell deine Tanzschuhe an und komm dann zu uns rüber. Ach übrigens, mein Name ist Frau Sander." Mit diesen Worten dreht sich Frau Sander um und verschwindet hinter einer Türe, die höchst wahrscheinlich zum Tanzsaal führt. Nun hat wohl das Schicksal für mich die Entscheidung getroffen. Viele Dank auch. Mürrisch lasse ich mich auf eine der Bänke fallen und nehme aus meiner Tasche die neuen Tanzschuhe heraus. Rasch ziehe ich sie mir an und komme unsicher wieder auf die Beine. Mit schlotternden Knien und einem riesigen Kloß im Hals bewege ich mich auf die Türe zu, durch welche Frau Sander verschwunden ist. Als ich ein letztes Mal tief durchatmen will, spüre ich ein leichtes Kribbeln in meinem Magen. Jetzt geht's los. Ich reiße energisch die Türe auf. Der Tanzsaal ist größer als ich ihn mir vorgestellt habe, was höchstwahrscheinlich an den Spiegeln liegt, welche fast die gesamten Wände des Saals ausfüllen. Nur an einer Seite des Raums werden die Spiegel durch großes Fenster ersetzt, durch welche die Nachmittagssonne hereinscheint. Vor der Fensterreihe sind runde Tische angebracht, an welchen nun die Schüler sitzen. Als ich den Raum betrete wandern prompt alle Blicke zu mir und mustern mich neugierig. Ich weiß genau was sie alle denken: „Oh, da ist ja die Tochter der Rektorin, die früher einmal Profitänzerin im Bereich des Standardtanzes war. Jetzt sind wir aber mal gespannt, ob die Tochter dieses großartige Talent geerbt hat." Die Antwort auf diese Frage ist leicht: Nein, nein und nochmals nein. Bevor ich einmal eine gute Tänzerin werde, steht noch eher eine Kuh mit Tütü auf der Bühne und tanzt Ballett. Mit erhobenem Haupt gehe ich auf die Gruppe zu und rede mir währenddessen immer wieder ein cool zu bleiben. Als mich nun auch Frau Sander bemerkt, lächelt sie mich erneut an. Man oh man, ist die ein Strahlemann. „Diese reizende junge Dame heißt Melanie und ist ab heute ein Mitglied unserer Gruppe.", ruft Frau Sander in die Runde. Verlegen lächle ich die Schüler an und lasse gleichzeitig meinen Blick über die Leute wandern. In der hintersten Reihe finde ich mein Zielobjekt: Den Neandertaler mit seinem lästigen Affenbaby. Die beiden scheinen jedoch zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, als dass sie meine Anwesenheit bemerkt hätten. „Ich glaube, du solltest als Erstes nur zugucken, damit du ein ungefähres Gefühl von der Lage bekommst.", spricht die Lehrerin weiter und fügt an Laif und Linh gerichtet hinzu: „Hey ihr Turteltauben in der letzten Reihe, wenn ihr euch hier langweilt schlage ich vor ihr zeigt uns allen, dass eure Langeweile gerechtfertigt ist." Grinsend sehen sich die „Turteltauben" an und erheben sich. „Aber gern doch.", erwidert Laif frech. Frau Sander verdreht nur die Augen und marschiert hinter ein Pult. Nach einem Moment ertönt das Lied: „El Tango De Roxanne" Das Paar tritt auf die Tanzfläche, während die Geigen erklingen. Mit einem festen Tritt auf den Boden fangen sie an zu tanzen. Ihre Körper sind bis auf die letzte Haarspitze angespannt und eng aneinandergedrängt. Der ganze Saal scheint vor Spannung elektrisch geladen zu sein. Das Paar bewegt sich elegant und gleichzeitig schwer durch den Raum. Laif drückt Linh immer wieder eng an sich, um sie im letzten Moment wieder von sich wegzuschieben, einen liebenden, leidenden Ausdruck im Gesicht. Linh folgt ihrem Freund, wie ein Spiegelbild, welches zur gleichen Zeit dieselben Bewegungen ausführt. Am ganzen Körper stellen sich meine Haare auf und ich bekomme eine Gänsehaut, die meinen gesamten Körper erzittern lässt. Ihre Bewegungen sind leidenschaftlich und ich komme mir vor, als ob ich ihnen bei etwas sehr intimen zusehe, kann jedoch vor lauter Stauen meinen Blick nicht abwenden. Viel zu schnell ist es vorbei und ich lande wieder in der Wirklichkeit. Das war... atemberaubend. „Das war in Ordnung", ertönt Frau Sanders Stimme. „Denkt aber das nächste Mal an die Beine. Diese sind beim Tango viel gebeugter, als ihr es gerade gemacht habt."Linh und Laif sind eindeutig außer Atem, hören aber ihrer Lehrerin interessiert zu. „Nun bist du an der Reihe Melanie.", meint sie. Als Frau Sander meinen Namen erwähnt, zucke ich innerlich und auch äußerlich zusammen. Mein Herz rutscht in die Hose- oder noch tiefer- und mein Magen fühlt es sich an, als ob darin tausend Bienen herumschwirren. „Aber..." Weiter komme ich nicht, da mich Frau Sander buchstäblich auf die Tanzfläche zieht. „Keine Wiederrede. Du musst vor nichts Angst haben, solange du nur ein wenig tanzen kannst.", witzelt sie herum, ohne zu wissen, dass sie gerade voll ins Schwarze getroffen hat. Bevor ich mich recht versehe, stehe ich vor Laif. Frau Sander hat Linh, welche mich wie eine wildgewordene Ziege anguckt, derweilen auf die Seite geschoben. „Dann wollen wir mal mit einem Disco Fox anfangen.", teilt die Lehrerin uns strahlend ihre Gedanken mit. „Wenigstens habe ich den Namen schon mal gehört", denke ich mir etwas erleichtert. „Wie gingen noch mal die Schritte: eins, zwei tap?", überlege ich hektisch weiter. Laif zieht mich an sich ran, wodurch ich seine Körpernähe spüre und sein Herz, welches im selben Rhythmus wie mein Eigenes zu schlagen scheint. Unsicher blicke ich zu ihm nach oben, bis unsere Blicke sich begegnen. Ich erkenne in seinen Augen die Verwirrung, die wohl auch in meinen zu sehen ist. Doch mache ich noch etwas anderes in den Tiefen seiner grünen Augen aus. Ist es Nervosität? Bevor ich richtig darüber nachdenken kann, beginnt das Lied. Schon im ersten Moment weiß ich, dass etwas schiefgehen wird. Dies liegt höchstwahrscheinlich daran, dass ich schon den ersten Schritt, den Laif macht, nicht kenne. Ich stolpere ihm also angestrengt nach und versuche seine Schritte zu imitieren. Vergeblich. Ich blicke verbissen auf unsere Füße, um einen logischen Sinn in den Abfolgen zu finden. Ohne Erfolg. Für einen winzigen Moment sieht es so aus, als ob ich den Dreh heraushätte. Doch dann- ohne Vorwarnung- beginnt Laif mich zu drehen und immer schneller zu drehen. Ich fühle mich, wie wenn ich in einem Kinderkarussell sitzen würde, welches immer schneller rotiert, bis mir schwindelig wird. Auf einmal ist da weder ein Karussell, noch Laifs Hand zum festhalten. Vor lauter Schwung drehe ich mich jedoch immer weiter, wie ein Kreisel. Doch jeder Kreisel hört irgendwann auf sich zu drehen. Auch bei mir ist dies der Fall. So krache ich mit vollem Schwung gegen einen der Spiegel, der sich klirrend über mich einregnet und unter sich einhüllt. Dann ist da nur noch schwarze Leere.



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