Kapitel 6

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Auf dem Weg zurück zur Schule hängen wir beide unseren eigenen Gedanken nach. Die Freude, die ich zu Beginn unseres Deals verspürt habe, hat sich gelindert. Stattdessen hat sich ein neues Gefühl in mir breit gemacht: Das Schuldgefühl. Als erstes war es nur ganz leicht im Magen zu spüren gewesen, doch mit der Zeit hat es sich vergrößert, wie ein Schwamm, der sich mit Wasser füllt. Nun erfüllt dieses Gefühl jede Faser meines Körpers. Immer wenn ich meine Mutter ansehe, wie sie traurig mit gesenktem Kopf neben mir hergeht, würde ich sie am liebsten in den Arm nehmen und ihr sagen, dass wir dieses Abkommen nicht machen müssen, dass mir ihr großer Traum hier zu arbeiten sehr wichtig ist und ich mich sicher hier gut einfinden werde. Ein paar Mal haben mir die Worte schon auf den Lippen gelegen, doch ich bin zu egoistisch um sie auszusprechen. Deswegen gehen wir weiter schweigend nebeneinander her. Als wir an der Schule ankommen, umarmt mich meine Mutter plötzlich fest und flüstert mir ins Ohr: "Du bist für mich das wichtigste auf der Welt, das musst du wissen." Mir wird ganz schlecht vor Schuldgefühlen, aber ich bringe die richtigen Worte einfach nicht heraus: "Ich hab dich lieb Mama." "Ich dich auch mein Schatz." Nach einem letzten traurigen Lächeln, dreht sich meine Mutter um und geht davon. Ich bleibe allein zurück und versuche mich zu beruhigen. Heute Morgen noch wäre ich über die jetzige Lage überglücklich gewesen, doch jetzt ist da nur noch dieser Schwamm in meinem Bauch, der einfach nicht kleiner werden will. Schließlich drehe ich mich um und gehe zurück zu meinem Zimmer. Sarah sitzt immer noch in ihrem Bett und tippt an ihrem Handy rum. "Na wie war der Spaziergang?" " Was bitte war da vorhin mit meiner Mutter?", komme ich gleich zur Sache, ohne ihre Frage zu beantworten. "Was meinst du?", fragt sie mich überrascht. "Na diese Schleimmerei über meine Mutter." "Ach das." Sie lacht. "Ich hab mir gedacht, dass es sicher nicht schaden kann, sich mal bei der neuen Rektorin vorzustellen. Ich wusste ja nicht, dass du so ein Problem damit hast." "Ich finde es einfach nur komisch, dass jemand so mit meiner Mutter redet. Vor allem, wenn ich dabei bin." "Ich werds mir merken.", lacht sie und fährt fort: "Wann kommen eigentlich deine ganzen Sachen an?" "Keine Ahnung ich hoffe bald. Woher kommst du eigentlich?" Ich setze mich neben ihr auf das Bett. "Aus so nem Kaff in der Nähe von Berlin, aber da gab es nicht so viele Möglichkeiten Profitänzerin zu werden." "Das kann ich mir vorstellen.", sage ich lachend. Den restlichen Tag unterhalten wir uns über alle möglichen Sachen und ich fange an Sarah zu mögen. Nach ihrer Erzählung, weiß ich einiges mehr über meine Zimmergenossin. Sie hat eine große Schwester, die aber sobald sie alt genug war, aus dem Kaff, in dem sie mit ihren Eltern und Sarah gelebt hat, nach Amerika geflüchtet ist, und seit dem nur noch wenig Kontakt zwischen ihr und ihrer Familie herrscht. Ihre Schwester ist so zum schwarzen Schaf in der Familie geworden und ihre Eltern haben begonnen, Sarah zu verhätscheln. Als Sarah ihren Eltern mitgeteilt hat, dass sie auf die Tanzschule gehen will, sind diese schier ausgerastet, da nun ihre einzige Tochter, die noch übrig geblieben war, sie nun auch verlassen wollte. Sie haben ihr an den Kopf geworfen, dass sie niemals mit dem Tanzen ihr Geld verdienen wird und dass irgendwann ihre Traumblase, in welcher sie lebt, zerplatzen wird und Sarah dann ohne eine richtige Ausbildung dastehen wird. Daraufhin hat Sarah ihre Koffer gepackt und ist wie ihre Schwester von zu Hause abgehauen und hier her gekommen. "Wir sollten langsam zum Speisesaal gehen, sonst ist das Beste schon weg, bis wir kommen.", witzelt Sarah Stunden später. Als ob mein Magen sie verstanden hätte, knurrt er in diesem Moment laut los und wir müssen wieder lachen. "Ich glaub das ist eine gute Idee." Wir stehen auf und machen uns auf den Weg nach unten. In der Eingangshalle, gehen wir um eine Ecke, die ich davor noch nicht bemerkt habe und stehen dann vor einer riesigen Holztür, die Sarah schwungvoll öffnet. Ich starre mit weit geöffnetem Mund in den Raum, vor dem wir stehen. Raum ist eigentlich das falsche Wort für diese riesige Halle, welche voll mit Tischen steht. Die Decke ist wie in der Eingangshalle gewölbt, mit dem Unterschied, dass hier große Kronleuchter von der Decke hängen und den ganzen Raum mit Licht erfüllen. Die Wände sind voll von alten Gemälden, auf denen man tanzende Leute erkennt. Überall sind Schüler zu sehen, welche sich an eine Stelle des Raums drängeln. "Wow, das ist ja echt... imposant hier.", staune ich. Sarah beginnt zu kichern: "Nicht schlecht oder? Mach mal wieder den Mund zu, sonst sabberst du noch den ganzen Boden voll." Schnell schließe ich wieder meinen Mund und wir gehen auf die drängelnde Masse zu. Jetzt erkenne ich, warum sich so viele hier versammelt haben: An einer Wand ist eine Theke zu erkennen, an der mehrere Köche das Essen an die Schüler verteilen. Sarah und ich stellen uns hinten an. Nach mehreren Minuten des Wartens sind wir an der Reihe. Wir nehmen uns einen Teller und einer der Köche gibt uns ein großes Stück Fleisch, der Nächste setzt einen Knödel dazu und der Dritte schüttet uns Soße über den Teller. Und wie gut das riecht. Sarah geht zielstrebig auf einen der Tische zu. Als wir dort ankommen, sehe ich, dass Laif schon dort sitzt und sein Essen in sich rein schiebt, als ob er schon seit Tagen nichts mehr bekommen hätte. Nach einer kurzen Begrüßung setzen wir uns zu ihm. "Und schmeckt's?", frage ich ihn. Er nickt. "Man sieht's irgendwie.", lache ich. "Sehr witzig.", meint er zwischen zwei Bissen. Ich will mir gerade meine Gabel in den Mund stecken, als zwei weitere Personen zu uns an den Tisch kommen. Es ist ein Junge und ein Mädchen. Der Junge hat eine dunkle Hautfarbe und kurze Stoppelhaare. Das Mädchen hat lange schwarze Haare und scheint aus China oder Japan zu kommen. "Heyo Bro.", ruft der Junge und klatscht bei Laif ein. "Hi Tyron.", grölt Laif zurück. Nachdem er Sarah umarmt hat und mir ein Lächeln zugeworfen hat, setzt er sich zu uns. Mit leichtem Entsetzen muss ich zusehen, wie das Mädchen Laif einen dicken Kuss auf den Mund gibt, bevor auch sie sich hinsetzt. Das habe ich ganz und gar nicht erwartet. "Und will mir mal jemand hier dieses bezaubernde Mädchen vorstellen.", sagt Tyron und blickt in die Runde. "Ich kann mich auch selbst vorstellen." Entgegne ich grinsend bevor jemand das Wort erheben kann. "Ich bin Melanie und bin heute erst hier angekommen." "Sie ist die Tochter der neuen Rektorin.", fügt Laif hinzu. "Genau das wollte ich vermeiden, vielen Dank Laif.", denke ich mir. "Ach wirklich, das ist ja interessant.", meint das Mädchen abfällig. Sofort wird sie mir unsympathisch. "Was ist daran interessant. Ich bin ja trotzdem nicht anders als ihr.", entgegne ich ihr. "Ist das so? Ich habe gehört, dass die Tochter der Rektorin nicht mal vortanzen musste, um an die Schule zu kommen." Laif lacht und ich hätte beide am liebsten geohrfeigt. Um ehrlich zu sein, hab ich bis vor diesem Moment nicht einmal gewusst, dass man vortanzen muss, um hier genommen zu werden. "Jetzt ist aber auch mal wieder gut Linh .", ruft Sarah dazwischen, bevor ich antworten kann. "Warum? Sie kann ruhig wissen, dass wir seitdem wir erfahren haben, dass die Tochter der Rektorin an die Schule kommt, nur über sie gelästert haben." Jetzt ist es raus, jetzt verstehe ich diesen Unterton, den ich sowohl bei Laif, als auch bei Sarah bemerkt habe. Sie sehen mich alle als ein Mädchen an, das durch den Status ihrer Mutter lauter Vorzüge genießen kann. Das schlimmste an der Sache ist, dass ich ihnen nicht mal wiedersprechen kann. Ich musste ja nicht mal vortanzen. "Jetzt hallt doch endlich mal die Klappe Linh.", meint nun auch Tyron. "Ich sag ja nur die Wahrheit.", vermerkt Linh schulterzuckend. Ich merke, wie mir die Tränen kommen und springe schnell auf, bevor es jemand bemerken könnte. Dann renne ich aus dem Speisesahl, die Treppen hoch und in mein Zimmer. Als ich in meinem Bett liege, fange ich ein zweites Mal an diesem Tag an zu weinen. Ich schluchze und rotze meine Bettdecke voll. "Ein Jahr, dann ist das Alles vorbei. Nur ein Jahr", versuche ich mich zu beruhigen.  Schließlich schlafe ich in meinen Klamotten ein.






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