Meinen letzten Sommerferientag verbringe ich damit meiner neuen Zimmergefährtin aus dem Weg zu gehen. Oder vielleicht auch andersrum. Als ich nämlich am nächsten Morgen mit verheulten Augen und zottligen Haaren aufwache, ist Sarah nicht mehr in ihrem Zimmer. Stattdessen ist mein Koffer endlich angekommen. Da ich keine besondere Lust habe Sarah zu begegnen, verabrede ich mich mit meiner Mutter. Wir fahren zusammen zu einem Einkaufszentrum und gehen shoppen. Beim Mittagessen teile ich ihr mit, dass ich in Standardtanz gehen werde. Als meine Mutter das hört, fällt sie beinahe vor Freude aus ihrem Stuhl. Daraufhin gehen wir sofort Tanzschuhe einkaufen und kommen erst so spät wieder an der Schule an, dass Sarah schon schläft, als ich unser Zimmer betrete. Das nenne ich einen erfolgreichen Tag.
Am nächsten Morgen weckt mich mit freudiger Stimme Justin Bieber mit seinem Lied „What do you mean?" Um ehrlich zu sein, wäre ich am liebsten aus dem Fenster gesprungen, nur um nicht mehr diese krächzende Stimme hören zu müssen. Es liegt also auf der Hand, dass dieser Wecker nicht mir gehören kann. Die Worte „When you don't want me to move" hallen laut in unserem Zimmer wieder. Verzweifelt drücke ich mein Kissen über meinen Kopf und rufe: „Sarah, mach den verdammten Wecker aus." Nach weiteren Sekunden, in denen der Bieber fröhlich weitersingt, spähe ich unter meinem Kopfkissen hervor. Ich kann es kaum fassen: Sarah liegt immer noch in ihrem Bett und schnarcht vor sich hin. Wie kann man denn von diesem Lärm bitte nicht aufwachen?! „What do you mean? Oh, what do you mean?", singt er weiter. Nun reicht es. Ich nehme mein Kissen und werfe es auf Sarahs Gesicht. Nach einem letzten erstickten Grunzen, wacht sie endlich auf. „Was soll das denn?", fragt sie verärgert. „Das gleiche könnte ich dich fragen.", demonstrierend zeige ich auf ihr Handy, aus dem immer noch Justin Biebers Stimme zu hören ist. „Deswegen musst du mich ja nicht gleich abwerfen.", meint Sarah empört, macht aber endlich ihren Wecker aus. „Sorry.", murmle ich. „Ich muss mich auch entschuldigen. Was du letztens beim Abendessen gehört hast, war nicht gerade nett. Um ehrlich zu sein war es ganz schön fies." Schuldbewusst starrt Sarah auf mein Kissen, welches sie in den Händen hält. „Die einzigen, die fies waren, sind Linh und Laif gewesen.", versuche ich sie, aber auch irgendwie mich selbst zu überzeugen. „Wir haben uns wirklich Gedanken darüber gemacht, wie du bist und dass du wahrscheinlich total eingebildet bist.", erklärt Sarah, „Aber das war bevor ich dich kennengelernt habe." Sie wirft die Bettdecke über sich selbst. „Ist schon okay.", beschwichtige ich sie. Vorsichtig lugt sie mit einem Auge unter der Decke hervor. „Du bist wirklich okay." Ich muss lachen. „Na dann ist ja alles gut." „Also ist alles wieder gut zwischen uns?", fragt sie nervös. Als ich nicke, springt sie aus ihrem Bett und umarmt mich. „Wir sollten uns langsam mal für den ersten Schultag fertig machen.", merke ich an. Sie stimmt mir zu und gemeinsam machen wir uns fertig. Zusätzlich zu den Tanzschuhen habe, ich mir gestern noch eine blaue Röhrenjeans, ein weißes Hängetop und eine Jeansjacke gekauft. Ich ziehe die neue Kleidung an und dazu noch schwarze Sandaletten, welche das Outfit vervollständigen. Zum Abschluss tusche ich mir noch die Wimpern und stecke mir Ohrringe ans Ohr. Zufrieden schaue ich in den Spiegel. Meine dunkelblonden Haare fallen mir ins Gesicht und ich streiche sie mir hinter das Ohr. Jetzt kann der erste Schultag an der neuen Schule beginnen. Sarah und ich gehen zusammen in den Speisesahl. Ich habe ein leicht mulmiges Gefühl im Magen bei der Vorstellung gleich wieder Linh und die anderen zu treffen. Als wir an unserem Tisch ankommen, ignorieren mich alle bis auf Tyron, der mich etwas verunsichert angrinst. Ich lächle zurück und setze mich neben ihn und Sarah. „Na schon aufgeregt wegen deines ersten Schultags?", versucht Tyron ein Gespräch zu beginnen. „Schon ein bisschen.", sage ich nervös. „Das wird schon.", versucht er mich aufzumuntern. In diesem Moment spricht Laif ihn an. Sie reden über irgendeinen Fußballspieler, der mir aber nichts sagt und mich auch nicht wirklich interessiert. Als sie von einem Spray schwärmen, welches all ihre kleinen „Wehwechen" lindern, wird mir die Unterhaltung zu blöd und beginne deswegen, in meinen eigenen Gedanken versunken, meine Semmel zu schmieren. Ich hoffe sehr, dass ich diesen Tag halbwegs überstehe. Um ehrlich zu sein, habe ich viel mehr Schiss, als ich vor Tyron zugegeben habe. Diese Angst kann ich, wenn es nach mir geht, auch zu Recht haben. Immerhin bin ich auf einer verdammten Tanzschule, ohne überhaupt tanzen zu können. Da kann man schon mal leicht durchdrehen. Plötzlich ertönt eine laute Stimme im ganzen Saal. Erschrocken blicke ich mich um, bis ich meine Mutter erkenne, die in ein Mikrofon spricht. Am liebsten wäre ich unter den Tisch gekrochen, oder noch besser, gleich im Erdboden versunken, am besten wäre es gewesen, wenn Aliens gekommen wären, um mich zu holen. Aber wie immer in so peinlichen Situationen, passiert überhaupt nichts dergleichen. Kein großes Loch tut sich auf und die Aliens scheinen am falschen Ort gelandet zu sein. Stattdessen sieht mich Linh höhnisch und verzieht eingebildet ihre Lippen zu einem Grinsen. Auf einmal wird es ganz still im Raum. „Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler. Mein Name ist Frau Rebek und ich bin die neue Rektorin der Schule. Ich hoffe wir werden ein schönes und erfolgreiches Jahr miteinander verbringen.", beginnt meine Mutter ihre Rede. Nach ihrer Ansprache folgen noch ein paar Lehrer, welche anscheinend auch noch etwas zu sagen haben. Zum Schluss werden die Stundenpläne für dieses Jahr ausgeteilt. Da ich erst ziemlich am Schluss aufgerufen werde, bekomme ich mit wie die Schüler entweder- wenn sie einen guten Stundenplan erhalten- diesen freudig ihren Freunden zeigen und angeben, wie viele Freistunden sie an welchem Tag auch immer haben, oder sich lauthals beklagen, wenn sie jeden Tag Nachmittagsunterricht haben. Als ich schließlich an der Reihe bin, überhöre ich beinahe meinen Namen, da der Geräuschpegel nach jedem Stundenplan ein wenig stärker geworden ist. Ich drängle und schupse mich schließlich bis nach vorne und nehme meinen Stundenplan entgegen. Er ist weder total schlecht, noch super gut. Als ich schließlich wieder an unserem Tisch stehe, wird heftig darüber diskutiert, ob irgendein Lehrer, den ich eh nicht kenne mit einer Lehrerin, die ich –welch Überraschung- auch nicht kenne, etwas am Laufen haben. „Niemals.", ruft Sarah. „Bist du blind? Oder warum siehst du nicht diese Blicke, die sie die ganze Zeit wechseln.", jammert Laif. „Es ist echt offensichtlich.", meint nun auch Linh, welche sich, wie ein Baby Affe an seine Mutter, an Laif klammert. Der einzige, der anscheinend auch kein großes Interesse an der Beziehung der Lehrer hat, ist Tyron. Als er merkt, dass auch ich den Dreien nicht wirklich an den Lippen hänge, macht er mit seinen Fingern ihre Mundbewegungen nach und ich muss lachen. Er gesellt sich neben mich und stupst mich mit der Schulter an. „Manchmal frage ich mich, wie man nur so interessiert an dem Privatleben der Lehrer sein kann. Ich meine-hallo- es sind ja nur Lehrer.", flüstert er mir ins Ohr, damit es die anderen nicht hören können. „Ich versteh es auch nicht so ganz.", gebe ich zu, „Und was hast du als Erstes?" ich tippe auf seinen Stundenplan, welchen er in den Händen hält. „Mathe.", stöhnt er, „Bei Herr Lambert." „Hey, da muss ich auch als erstes hin.", meine ich freudig, da ich so schon jemanden habe, den ich kenne. „Freu dich nicht zu früh. Du kennst Herr Lambert noch nicht.", seufzt er, „Wollen wir schon mal gehen? Es gongt eh gleich." Ich nicke und so machen wir uns auf den Weg. Wir gehen aus dem Speisesahl und einen Flur lang, der zu einer großen Treppe führt. „Diese Schule ist der reinste Irrgarten.", jammere ich. Tyron beginnt zu lachen. Ich mag sein Lachen, es ist warm und man hört sofort, dass es von Herzen kommt. „Daran wirst du dich gewöhnen. Ich bin in den ersten Tagen, die ich hier verbracht habe zu ziemlich allen Stunden zu spät gekommen, weil ich mich jedes Mal vollkommen verlaufen habe. Einmal bin ich sogar auf der Suche nach der richtigen Tür in einer Abstellkammer gelandet." Bei der Vorstellung, wie Tyron plötzlich auf der Suche nach dem richtigen Klassenzimmer vor Besen und Putzeimern stand, pruste ich lauthals los. „Das ist nicht dein Ernst oder?", frage ich lachend. „Das meine ich Todernst.", und fügt hinzu: „Oder einmal. Da bin ich in ein Klassenzimmer rein spaziert. Ich entschuldige mich noch beim Lehrer, dass ich zu spät bin und setze mich auf irgendeinen leeren Platz. Als die ganze Klasse plötzlich anfängt zu lachen, schaue ich mich verwirrt um und muss feststellen, dass ich im falschen Klassenzimmer gelandet bin." Nun ist mein letzter Rest Selbstbeherrschung auch noch verloren gegangen und ich kann mich nicht mehr halten vor Lachen, bis mir ein Grunzen herausrutscht. Für einen Moment ist mir dieser Grunzer richtig peinlich, doch dann brüllt Tyron auch vor Lachen los und ich stimme mit ein. So erreichen wir schließlich unser Klassenzimmer. Wir stehen weder in einer Abstellkammer, noch in einer falschen Klasse. Stattdessen blickt uns, als wir das Zimmer betreten, ein alter Mann mit weißen Haaren entgegen. Sein Rücken ist leicht gebeugt. Wenn ich schätzen müsste, wie alt er ist, würde ich ihn locker auf achtzig schätzen. Er nickt uns zu, indem er erst seinen ganzen Kopf nach oben wandern lässt, um ihn dann langsam, wieder runter rollen zu lassen. Tyron und ich sind so gut wie die Ersten. So haben wir wenigstens noch freie Platzwahl. Wir entscheiden uns für den Platz ganz hinten in der Ecke. „Ist Herr Lambert immer so... wie soll ich sagen...lahm?", frage ich Tyron neugierig. „Warte mal ab bis er anfängt zu reden.", verheißungsvoll reißt Tyron beim Sprechen die Augen auf. Mit der Zeit schlendern immer mehr Schüler in das Zimmer hinein. Als schließlich alle einen Platz gefunden haben, kriecht Herr Lambert (man kann es einfach nicht anders beschreiben) zur Tür, um sie zu schließen. Als er wieder vor seinem Pult steht, sind gefühlt Minuten vergangen. Langsam öffnet er seinen Mund und spricht monoton: „Guuuteeeen Mooorgen. Iiiiich hoooooffe iiiiihr haaaattet schööööne Feeeerien." Entsetzt starre ich Tyron an, der mich angrinst. „Habe ich dir zu viel versprochen?", flüstert er mir zu. „So kann der doch nicht Mathe unterrichten. Da brauchen wir ja Jahre bis wir mit dem Stoff durch sind.", flüster ich zurück. Genau in diesem Moment fängt Herr Lambert wieder an zu sprechen: „Uuuunser eeeerstes Theeeema iiiist Stoooochaaaaaastik." Das Wort Stochastik zieht er so in die Länge, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre, um ihn wach zu rütteln. „Das Gute an seinem Unterricht ist, dass man schlafen kann. Oder meinst du, dass der darauf achtet, ob alle interessiert zuhören?", fragt Tyron leise. Ich schüttle den Kopf. Die restliche Stunde ratschen Tyron und ich miteinander, während Herr Lambert mit seiner langsamen, leisen Stimme weiter vor sich hin redet. Die restlichen Schulstunden gehen relativ uninteressant vorbei. Dann ist es so weit! Gleich werde ich meine erste Tanzstunde haben. Gleich werden alle merken, dass ich auf einer Tanzschule bin, ohne tanzen zu können. Gleich beginnt mein schlimmster Alptraum.
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Dance if you can
Teen FictionMelanie ist ein ganz normales Mädchen, das gerne mit Freunden abhängt und hin und wieder auf Partys geht. Mit einer Sache hat sie jedoch nichts am Hut: Dem Tanzen. Doch plötzlich findet sie sich auf einer Tanzschule wieder und muss genau das lernen...