07. 01. 2016

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Ruby kam gerade eben in mein Zimmer und hat gefragt, ob alles okay ist. Ich hab ja gesagt und mein Gesicht wieder in dem frischbezogenen Kissen vergraben. Sie meinte: "Sag, wenn was ist". Und ich hab gesagt: "Es ist was, aber ich sag es nicht".

Die Schule hat wieder angefangen. "Jetzt sind die Probleme wieder da", habe ich zu Grace gesagt, gleich nachdem ich sie zur Begrüßung umarmte. Strotzten Sie, liebes imaginäres Publikum, am ersten Schul-oder Arbeitstag nach zwei Wochen Pause, in denen sie sich über die ganzen Probleme des Alltags keine Gedanken machen mussten, nicht auch nur so vor positiver Energie und Optimismus? Nein? Tja, ich auch nicht.

Ich bin eher wie ein gendefekter Baum. Ich nehme die positiven Empfindungen über den Schulbeginn eines Manchen auf und mache sie, grob gesagt, mies. Viele beachten das nicht, einige verdrehen die Augen und manche sind genau wie ich und begegnen der Schule und dem Schulsystem nicht unbedingt mit freundlichen Gefühlen.

Der Tag fing damit an, dass ich in den Bus einstieg um zur Schule zu fahren und mich neben eine Frau mittleren Alters setzte. Sie sah aus dem Fenster und musterte die Anzeigetafel, die man neben der Haltestelle trotz Fahrplan in den Boden gepflanzt hatte.

Über den Hang zur täglichen Produktion unnötiger Dinge, den diese Welt zweifellos hat, will ich mich jetzt nicht aufregen.

Kehren wir zu der Frau zurück. Es schien, als würde sie sehen ohne zu sehen, fixiert auf nichts und niemanden. Und dann hab ich mich umgeschaut und einen Jungen von vielleicht siebzehn Jahren in Augenschein genommen, der sein Handy anstarrte und kein Ausdruck, keine Empfindung war in seinem Blick zu erkennen. Ein junger Mann ist bei der nächsten Haltestelle eingestiegen, den Mantel um sich geschlungen mit Aktentasche in der Hand, sofort durch, ab nach hinten, niemanden außer sich selbst sehend, vertieft in seine eigenen Gedanken. Irgendwann stiegen auch Mädchen meines Alters in den Bus ein, die eine hat ziemlich laut gelacht, ich hab mich richtig erschrocken. Der vermeidlich siebzehnjährige Handy-Junge hat beide kurz von oben bis unten gemustert, sein Blick ist anschließend sofort zu dem leuchtenden Display zurück gekehrt.

Als ich ausgestiegen bin, haben mir manche flüchtige Blicke zugeworfen, manche haben ihren Kopf gehoben, manche haben mich gemustert, einmal runter, einmal rauf, die beiden Mädchen zum Beispiel, eine von den beiden hat irgendwas über meine Haare gesagt. Ich hab beim Aussteigen eine ältere Frau angelächelt, einfach so und bekam einen irritierten Blick zurück.

Ich habe etwas festgestellt bei der ersten Busfahrt zur Schule nach zwei Wochen Ferien. Und zwar, dass die Menschen nicht mehr richtig hinsehen, weil sie alle umhüllt sind von dem schwarzen Schleier ihrer eigenen Probleme, den ihre Blicke kaum durchdringen können. Klar, es gibt bestimmt ausnahmen. Pfarrer zum Beispiel oder buddhistisch Fortgeschrittene und sicher auch welche, die ganz normal sind. Als normal wird hier jemand dargestellt, der den ganz normalen, alltäglichen Tagesablauf hat: Aufstehen, Frühstück, Fahren, Arbeit oder Schule, Fahren, Besorgungen oder Hausaufgaben etc., Abendbrot, Schlafen.

Menschen streifen aneinander vorbei ohne sich in irgendeiner Form zu berühren, nichts als dunkle Flecken am Rande der Leinwand eines großen Schattentheaters, nichts als dünne Luftzüge ihm vorbeigehen, abperlende Wassertropfen auf einem gespannten Regenschirm, wie ein unverständlich gemurmelter Satz, zufällig mitgehört, doch gleich wieder vergessen.

Und ich kann nicht mal sagen, ich bin anders. Das macht es für mich am schlimmsten. Ich bin genau, wie sie, mit genau den gleichen leeren Augen, der Hast, der Ungeduld, dem schwarzen Schleier, mit genau der gleichen Angewohnheit, die sich so viele angeeignet haben: Das, was geschieht, zu betrachten, wie einen Fluss. Alles fließt vorbei in rasender Schnelle, nichts sticht heraus, nichts bleibt hängen. Und ich bin mitten drin und werde mitgerissen, zu schwach um gegen die gewaltige und unaufhaltsame Kraft des Stroms anzuschwimmen, auch wenn ich es gerne würde, scheine ich keine Wahl zu haben oder einfach nicht die Energie und den Willen.

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