24. 02. 2016

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Ich bin seit Ewigkeiten mal wieder im Park. Jetzt gerade in diesem Moment sitze ich auf einer Bank in dem kleinen Park nicht weit entfernt von Zuhause und schreibe in dieses Logbuch. Das lustige an der ganzen Situation ist der Regen. Über meinem Kopf spannt sich ein großer schwarzer Schirm und verhindert den Ruin dieses Buches durch die nassen Tropfen, die ganz schön heftig hier runter prasseln, so heftig, dass ich Angst habe, der Schirm hält dem nicht stand.

Vereinzelte Leute sehen mich im Vorbeigehen komisch an. Man sieht ja nicht alle Tage ein sechzehnjähriges im strömenden Regen auf einer Bank unter einem Schirm sitzen, das zu alle dem noch Tagebuch beziehungsweise Logbuch schreibt.

Es ist ziemlich kalt aber irgendwie ist mir das egal. Die Nässe ist mir auch egal.

Mom hat mal gesagt, dass im Regen laufen ein Zeichen von Gleichgültigkeit ist. Vielleicht stimmt das zum Teil. Nicht zu Hundert Prozent aber zum Teil.

Denn gerade spüre ich allumfassende Gleichgültigkeit in mir.

Ich habe mich dazu entschieden für eine Stunde alles fallen zu lassen.

Die Schule ist mit egal.
Die Menschen sind mir egal.
Meine Zukunft ist mir egal.
Ob es regnet, ist mir egal.
Ob die Leute mich gerade seltsam angucken, ist mir egal.
Ob ich noch Hausaufgaben und Geige üben muss, ist mir egal.
Der Druck ist mir egal.

Für eine Stunde. Danach gehe ich nachhause und widme mich diesen Dingen. Aber nicht jetzt.

Es tut gut. Es ist befreiend.

Und es war nötig mal rauszugehen, sonst wäre mein Kopf geplatzt und rote Tomatensauce hätte mein Zimmer-Mobiliar besudelt. "Rote Tomatensauce" ist in diesem Fall eine Metapher für den ganz bestimmt nicht allzu appetitlich aussehenden Inhalt meines Kopfes. Ganz zu schweigen von dem, was in ihm vor sich geht.

Meine Gedanken sind eine einzige, dickflüssige, matschige Tomatenpampe, die von einem dieser riesigen Holzlöffel immer und immer wieder umgerührt wird in der verzweifelten Hoffnung eine cremige Suppe daraus zu machen. Klappt es? Nein. Ich habe eher das Gefühl, die Pampe wird immer klumpiger. Und offensichtlich schaffe ich es nicht die richtigen Zutaten hinein zu packen, im Gegenteil, ich werfe immer das Falsche in den Großen Topf alias Gehirn alias Produktionsmaschine seltsamer Sachen.
Mein Kopf ist dermaßen vollgekopft, dass ich die einzelnen Gedanken kaum noch voneinander trennen kann, sie formen sich nach und nach zu einem einzigen, riesigen, klebrigen Klumpen der Leere.

Ein riesiger Kumpel der Leere. Ich bin mir gerade nicht sicher, ob das poetisch oder schwachsinnig klingt. Für die meisten wahrscheinlich eher letzteres.

Aber wie auch immer, Tatsache ist, dass er mir von innen gegen die Schädelwände drückt.

Es wird langsam kalt hier. Aber ist mir egal.

Haben Sie, liebes imaginäres Publikum, schon mal das Gefühl gehabt an sich selbst zu ersticken?

"Elaine, wir machen uns Sorgen", hat Mom heute gesagt, als sie in mein Zimmer gekommen ist. Ich habe auf dem Bett gelegen, bin direkt nach meiner Ankunft Zuhause rauf in mein Zimmer gerannt, habe mit keinem geredet.

Antriebslos. Unmotiviert. Unnahbar. Diese und weitere Begriffe fielen während Mom mir meine missliche Lage aus ihrer Sicht vorgetragen hat.

Prüfungen. Abitur. Schule. Bewegung. Veränderung. Einstellung. Arbeit. Viel zu viel für meinen zur Zeit zugekleisterten Verstand.

Kenneth's Party letztes Wochenende hat glaub ich auch ihre ganz eigenen Zutaten in meine Tomatenpampe geworfen.

Irgendwie hab ich zu viel getrunken und Alan geküsst oder er hat mich geküsst oder wie auch immer.

Eigentlich habe ich gar keine Lust gehabt dort hin zu gehen aber Helen und Annie haben mich angefleht und Grace hat gemeint, ein bisschen rausgehen würde mir gut tun.

Sich an den ersten Kuss nicht mehr wirklich erinnern zu können ist auch nicht unbedingt etwas, das man gerne hinter her erzählt oder aufschreibt. Ich weiß nicht mehr, wie es sich in mir angefühlt hat, wonach es geschmeckt hat oder ob er seine Arme um meine Taille gelegt hat, ich hab auch keine Ahnung, wie lange es gedauert hat oder wie er mich danach angesehen hat, ob wir außer Atem waren oder nicht. Auch welches Lied im Hintergrund lief, weiß ich nicht mehr. Nur die Berührung an sich ist noch da und ich kann bloß sagen, dass ich mir Lippen niemals derart weich vorgestellt habe, sie fühlen sich weicher an, als sie aussehen und das will wirklich etwas heißen.

Bin ich eigentlich die Einzige, die den Satz "Wir haben uns geküsst" irgendwie vom Klang her komisch findet?

Annie meint später, ich wäre ganz schön ran gegangen.

Ich und Alan. Jetzt denken alle wir wären zusammen. Und ich hab keine Ahnung. Er ist toll aber...vielleicht liegt es an mir. Gott, ist das klischeehaft.

"Es liegt nicht an dir, es liegt an mir." Diese Aussage gehört definitiv auf die Liste von Sätzen, die ich nicht ausstehen kann. Ich sollte mal eine anfertigen. Ganz oben würde definitiv stehen "Es ist nicht so, wie es aussieht"!

Cara guckt sich eine andere Schule an und meldet sich sehr selten. Ich habe das Gefühl, dass sich zwischen ihr und mir ein Abgrund aufgetan hat, der langsam immer breiter und tiefer wird.

Ich hab mich außerdem gestern endlich mal wieder mit Josie getroffen. Es war an einer Stelle ein ziemlich tiefes Gespräch und wenn ich schon nicht in der Lage bin eine Kurzgeschichte zu ende zu schreiben will ich wenigstens dieses Gespräch wie eine darstellen:

"Wenn man im Leben fällt, kommt man nie unten an, weil es von schlimm immer eine Steigerung gibt." Josie lag auf meinem Bett, starrte an die Decke.

Ich antwortete: "Ich bin anderer Meinung. Schließlich hat jedes Fass einen Boden."

"Und wenn man unten angekommen ist?" Sie setzte sich auf und sah mich fragend an. "Was dann?"

"Ich glaube, man ist dann entweder tot und oder mitten im Leben."

Sie lachte. Aber es war nicht echt. Es war eines ihrer ewigen Theaterstücke, die sie sich selbst vorspielte, als einziger Schauspieler auf einer unbelichteten Bühne stehend, ihren Text gekonnt aufsagend. Vor all den leeren, staubigen Publikumsplätzen in diesem riesigen, verlassenen Theater, Reihe um Reihe, Zeile für Zeile.

"Ich glaube man ist tot."

Ich schüttelte den Kopf. "Du musst damit aufhören die Dinge immer mit schwarzer Farbe zu bestreichen!"

"Das sagst gerade du?"

Darauf konnte ich nichts antworten. Den eigenen Pessimismus zu verleugnen ist zwecklos, ich weiß genau, wie schlecht ich darin bin alles negative an einer Sache außen vor zu lassen. Ich stehe bloß etwas zwischen den Welten während Josie sich schon längst für eine entscheiden hat.

Josie ließ sich wieder zurück auf fallen mit Blick auf meine weiße Zimmerdecke.

"Du bist grau, Elaine", sagte sie. "Du bist sowohl dunkel, wie hell, sowohl Nacht, wie Tag, sowohl Feuer, wie Wasser...du bist beides. Du bist Mischmasch. Du bist grau. Und ich...", sie seufzte, "...ich bin schwarz."

Schwarz. Ich weiß genau, was sie damit gemeint hat.

Josie ist jemand, der einen Begriff gerne umschreibt, sie findet es langweilig einer Sache bloß einen einzigen Namen zu geben, mit dem es sich dann erledigt hat, der Himmel weiß warum. Josie meint, es ist eine Mischung aus Metapher und Vergleich. Aus ihrer Sicht enthalten Namen oft keinerlei Beschreibung dessen, was sie benennen und das passt ihr nicht, aus welchem Grund auch immer.

Sie hat zum Beispiel Depressionen und bezeichnet es als "schwarze Psychen-Extreme".

Zu unserer Schule sagt sie manchmal "Höllenlerngebäude", keine Ahnung wie sie auf diesen Begriff gekommen ist aber irgendwie stimme ich zu.

Auch Josie hat mich gefragt, ob ich jetzt was mit Alan am laufen habe, wegen unserem "Diskolicht-Gedingse", um es mit ihren Worten zu sagen.

Ich glaub, ich sollte langsam mal nach hause gehen...Die Stunde ist fast rum und meine Finger sind eisig...außerdem habe ich wirklich das Gefühl, mein Regenschirm reißt ansonsten tatsächlich direkt über meinem Kopf.





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