Kapitel 11

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Nach einer Weile spürte ich, wie sich die Stimmung in der Box veränderte. Ich konnte es nicht erklären, aber auf irgendeine Art und Weise veränderte sie sich. Es dauerte nun etwa 10 Minuten, bis Julia sich zu mir umdrehte und ruhig sagte: "Sie möchte dir zu aller erst sagen, dass sie dich über alles liebt und dass du nichts für den Unfall kannst. Sie war ein bisschen nervös und hat sich dann einfach erschreckt."
"Warum frisst sie nicht?", fragte ich.
Julia drehte sich für einen Moment wieder zu Darling und erklärte dann: "Es geht ihr gut und du sollst dir keine Sorgen machen, aber sie weiß, dass sie nie wieder richtig laufen wird und sie weiß auch, dass für sie die Zeit gekommen ist."
Als ich das hörte standen mir schon wieder die Tränen in den Augen.
"Ist sie glücklich?", fragte ich. Wieder drehte sie sich kurz um und sagte dann: "Ja. Sie ist glücklich, weil sie bei dir sein kann und weil sie sieht, dass es dir gut geht. Das ist ihr ganz wichtig."
"Wünscht sie sich noch irgendwas?", fragte ich. Wieder dauerte es einen Moment. Dann sagte Julia: "Ja. Ihr letzter Wunsch ist, dass sie in Frieden gehen kann und dass du dann bei ihr bist. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als mit dir an ihrem liebsten Platz zu sein und in Ruhe und Frieden ein zu schlafen."
"Also will sie sterben?"
"Ja. Sie sagt sie hatte das beste Leben, was sie sich hätte wünschen können und hat alles erreicht, was sie erreichen wollte. Für sie ist es Zeit zu gehen."
Das war der Moment in dem ich in Tränen ausbrach. Ben, der neben mir saß, legte sanft einen Arm um mich und auch meine Stute schien mich trösten zu wollen, denn sie rieb ihren Kopf an meiner Schulter.
"Kann ich noch irgendwas für dich tun?", fragte Julia nun. Ich schüttelte den Kopf.
"Okay. Dann geh ich jetzt wieder. Wenn doch noch irgendwas ist dann sag einfach Jenny bescheid. Ich komme jeder Zeit gerne wieder."
Ich nickte und so ging die junge Frau wieder. Nun waren Ben und ich wieder allein mit Darling und ich konnte einfach nicht mehr. Ich vergrub mein Gesicht in Bens Schulter und schluchzte: "Was soll ich denn jetzt nur machen?"
"Dem Tierarzt Bescheid sagen, dass er morgen kommen soll und sie einschläfern.", sagte Ben ruhig.
"Bist du sicher, dass das das Beste ist?"
"Ja. Du hast es doch gehört. Darlings letzter Wunsch ist es in Frieden ein zu schlafen."
"Kannst du den Tierarzt bitte anrufen? Ich schaff das nicht."
"Ja klar."
Ich holte nun mein Handy raus und drückte es Ben in die Hand.

Nachdem Ben den Tierarzt Beschied gesagt hatte blieben wir noch die ganze Zeit bei Darling, bis am nächsten Morgen der Tierarzt kam. Er lächelte mich freundlich an und fragte: "Hast du noch irgendwelche Wünsche?"
Ich überlegte und dann fiel mir wieder ein, was Julia gesagt hatte. Darling wollte mit mir an ihrem Lieblingsplatz sein, wenn sie für immer die Augen schloss. Was wohl ihr Lieblingsplatz war? Da fiel es mir ein.
"Wäre es möglich sie zum Springplatz zu bringen?", fragte ich.
"Ja. Dann bräuchte ich nur ein paar Leute, die mir helfen sie zu stützen.", sagte der Tierarzt. Fragend schaute ich zu Ben rüber. Er nickte und verließ die Box, um wenig später mit einigen unserer Mitarbeiter wieder zu kommen. Gemeinsam stützten sie die Stute, die so auf drei Beinen zum Springplatz humpeln konnte. Dort legten sie sie langsam in den Sand und ich setzte mich sofort wieder neben sie. Die Stute legte ihren Kopf auf meinen Schoß und sah so glücklich aus, wie noch nie. Sanft streichelte ich sie und redete mit ihr, während der Tierarzt neben mir alles auspackte was er brauchte. Nach einer Weile erklärte er: "Ich werde ihr jetzt zwei Spritzen geben. Von der ersten schläft sie ein und wenn ich ihr die zweite Spritze gegeben habe, hört ihr Herz auf zu schlagen."
Ich nickte zwar, aber so wirklich zugehört hatte ich ihm nicht. Ich grübelte immernoch, ob ich auch wirklich das Richtige tat. Das war eindeutig die schwerste Entscheidung meines Lebens. Ben setzte sich zu mir und ich schaute zu ihm rüber.
"Tu ich wirklich das Richtige?", fragte ich unsicher. Er nickte bestimmt und legte sanft einen Arm um mich. Noch einmal schaute ich zu Darling runter und prägte mir jedes noch so kleine Detail an ihr ein. Wie die weißen Flecken auf ihrem Fell mit den Schwarzen verschmolzen, ihre tollen, braunen Augen, die vor lauter Glück strahlten, ihre schwarzen Flanken, die sich in gleichmäßigen Abständen hoben und senkten und vor allen Dingen ihr niedliches rosa Maul.
"Tschüß meine Süße! Ich werde dich nie vergessen und du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben!", flüsterte ich und strich ihr dabei immer wieder über ihren hübschen, leicht gebogenen Araberkopf.
Der Tierarzt gab ihr nun die erste Spritze und ich spürte, wie die Atmung der Stute ruhiger und gleichmäßiger wurde, bis sie schließlich ganz aufhörte. Der Tierarzt untersuchte sie noch einmal und sagte dann: "Es ist vorbei."
Das war der Moment in dem ich in Tränen ausbrach. Ben, der noch immer neben mir saß und einen Arm um mich gelegt hatte, umarmte mich nun und zog mich sanft näher zu sich.
"Soll ich den Abdecker anrufen?", fragte der Tierarzt.
"Nein. Diese Stute hat so viel für Lisa getan und ihr gesamtes Leben lang hart gearbeitet. Sie hat es verdient ordentlich bestattet zu werden.", sagte jemand hinter uns. Ich erkannte sofort, dass die Stimme zu meinem Vater gehörte und schaute ihn verdutzt an.
"Soll ich noch helfen?", fragte der Tierarzt. Mein Vater nickte und erklärte: "Ich hab da drüben auf der Wiese bereits ein Grab ausheben lassen und bräuchte nur noch ein paar Leute, die mir helfen die Stute da hin zu bringen."
Dann wand er sich uns zu und sagte: "Geht ihr am Besten schon mal rein."
Ben nickte und stand auf. Er reichte mir seine Hand und ich nahm sie. Noch ein letztes Mal strich ich meiner Stute über die Nüstern, bis ich mich an Bens Hand hoch zog und langsam los ging. Mir war total schwindelig und ich spürte, wie mir plötzlich die Beine weg knickten. Ben hatte zum Glück einen Arm um mich gelegt, sodass er mich noch halten konnte. Er hob mich nun vorsichtig hoch und ich schlang meine Arme um seinen Hals. Langsam trug er mich nun rein bis in unser Zimmer, wo er mich vorsichtig auf dem Bett absetzte und sich direkt daneben setzte. Sanft legte er einen Arm um mich und ich lehnte mich an ihn. Ich brauchte jetzt einfach seinen Halt.
"Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte Ben.
"Bleib einfach hier.", schluchzte ich und rückte noch etwas näher zu ihm.
"Okay.", sagte er und hob mich nun sanft auf seinen Schoß. Ich drückte mich fest an ihn und klammerte mich an seinem T-Shirt fest. Er umarmte mich und hielt mich ganz fest.

Der letzte Sprung - #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt