"Soll ich ihr jetzt die Spritze geben?", fragte der Tierarzt. Ich schüttelte mit dem Kopf und schluchzte: "Morgen. Wenn sie bis dann noch nichts gefressen hat."
"Okay. Dann komme ich morgen um die gleiche Zeit wieder.", sagte der Tierarzt und ging wieder. Ich vergrub mein Gesicht nun in Bens Schulter und schluchzte: "Ich will nicht, dass sie stirbt!"
"Ich weiß, aber wenn es ihr Wille ist musst du das akzeptieren und sie gehen lassen.", sagte Ben und umarmte mich.
"Und wenn es gar nicht ihr Wille ist?"
"Dann wird sie bis morgen früh wieder fressen."
"Ben ich hab Angst!"
"Musst du nicht. Ich bin bei dir."
"Aber Darling vielleicht bald nicht mehr."
"Du findest bestimmt ein anderes Pferd, dass du genauso gern haben kannst."
"Es gibt kein Pferd, dass wie sie ist!"
"Aber es gibt andere, die vielleicht auf eine andere Weise auch gut sind."
"Nein!"
"Doch. Du wirst ein anderes Pferd finden mit dem du genauso erfolgreich springen kannst."
"Nein! Ich werde nicht mehr springen!"
"Lisa was redest du da?"
"Wenn Darling stirbt werde ich nie wieder auch nur auf ein Hindernis zu reiten."
"Das kannst du nicht machen! Du bist eine der besten Springreiterinnen der Welt und hast so ziemlich alles bedeutende gewonnen, was man gewinnen kann. Du kannst doch jetzt nicht einfach aufhören!"
"Und ob ich das kann und wenn Darling stirbt werde ich das auch!"
Nun war Ben sprachlos. Ich wusste, dass mir diese Entscheidung noch leid tun würde. Nie wieder werde ich ohne Flügel fliegen können. Nie wieder werde ich das tun können, was ich so liebte, aber Darling war mir das wert. Für sie würde ich auch durchs Feuer gehen.
"Was willst du denn dann machen? Dein gesamtes Leben besteht aus dem Springreiten."
"Ich mache da weiter, wo ich vor 10 Jahren aufgehört habe und konzentriere mich wieder auf die Distanzrennen."
"Damit wirst du nicht glücklich werden und das weißt du auch."
Ich wusste, dass Ben Recht hatte, aber wenn Darling sterben würde, würde ich es nicht mehr schaffen über ein Hindernis zu springen. Jedes Mal würde der letzte Sprung hoch kommen und damit kam ich einfach nicht klar.Den restlichen Nachmittag versuchten wir gemeinsam alles, damit Darling vielleicht doch noch wenigstens etwas fraß, aber die Stute weigerte sich strikt auch nur einen Krümel zu fressen. Trotzdem schien sie irgendwie glücklich zu sein, obwohl sie kurz davor war zu sterben.
Irgendwann schliefen wir dann völlig erschöpft ein und die Stute wachte ruhig über uns. Erst durch ein leises Brummeln wurde ich am nächsten Morgen geweckt. Es war schon hell und Ben war bereits wach.
"Morgen.", sagte ich verschlafen und richtete mich langsam auf.
"Guten Morgen!", sagte Ben und gab mir einen Kuss. Ich erwiderte und fragte: "Hat sie mittlerweile gefressen?"
Ben schüttelte den Kopf und berichtete: "Sie weigert sich immernoch irgendwas zu fressen."
"Was mach ich denn jetzt?", fragte ich.
"Am Besten lässt du sie einschläfern.", sagte er nach einer Weile.
"Das kann ich nicht. Ich kann sie nicht einschläfern lassen, wenn sie so glücklich ist. Das bring ich einfach nicht übers Herz."
"Ich weiß, aber sie wird das hier nicht überleben und du kannst ihr ein paar Tage Qualen ersparen, wenn du sie jetzt einschläfern lässt."
"Wenn ich doch nur mit ihr sprechen könnte!"
"Mit wem willst du sprechen?", fragte plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und da stand Jenny. Sie hatte die letzten Tage frei bekommen und war erst an diesem Tag wieder da.
"Mit Darling.", sagte ich.
"Wie geht's ihr denn? Ich hab seit dem Turnier nichts mehr gehört."
"Sie hat das Bein gebrochen und die Sehne ist gerissen.", erklärte ich.
"Wird sie durch kommen?"
"So wie es momentan aussieht nicht. Sie hat seit zwei Tagen nicht mehr gefressen und alle raten mir sie ein zu schläfern."
"Ich hätte eine Idee, wie du mit ihr reden könntest."
"Und die wäre?"
"Eine gute Freundin von mir ist Tierkommunikatorin. Sie kann mit ihr reden und zwischen euch dolmetschen."
"Und das funktioniert?"
"Ja. Sogar recht gut."
"Okay. Wann kann deine Freundin kommen?"
"Sofort."
"Okay. Dann sag ihr sie soll bitte noch heute kommen. Ich sag dem Tierarzt ab.", sagte ich und holte mein Handy aus der Tasche. Schnell sagte ich dem Tierarzt ab und steckte es dann wieder ein.Zwei Stunden später kam Jenny mit ihrer Freundin wieder.
"Hallo! Ich bin Julia!", stellte sie sich vor.
"Lisa.", sagte ich knapp.
"Und wer ist das?", fragte Julia und streichelte meine Stute.
"Das ist Darling.", erklärte ich.
"Die Wunderstute, die in den letzten 10 Jahren alles gewonnen hat, oder?"
"Ja."
"Und du bist ihre Besitzerin?"
"Genau."
"Reitest du sie auch?"
"Ja."
"Und wie soll ich jetzt helfen?"
"Wir sind bei unserem letzten Turnier schwer gestürzt. Sie hat sich dabei das Bein gebrochen und ihre Sehne ist dazu noch gerissen. Der Tierarzt meint, dass es nie wieder richtig heilen wird und da sie sich seit zwei Tagen auch weigert zu fressen raten mir alle dazu sie einschläfern zu lassen."
"Aber du hängst ziemlich an ihr und bringst es nicht übers Herz, oder?"
Ich nickte.
"Okay. Ich werde mit deiner Stute jetzt eine Gedankenverbindung eingehen und kann so dann über meine Gedanken mit ihr kommunizieren. Ich übersetze dir dann alles, was sie mir sagt und wenn du möchtest kannst du auch Fragen stellen, die ich dann weiter reiche.", erklärte die junge Frau. Ich konnte zwar nicht so ganz glauben, was sie mir da erklärte, aber es war meine letzte Hoffnung und so nickte ich. Sie setzte sich nun direkt neben Darling in das Stroh und klopfte ihr den Hals. Meine Stute schaute sie vertrauensvoll an. Ihr schien die Frau sofort sympathisch zu sein und sie vertraute ihr auf Anhieb. Die Frau schloss nun die Augen und strich Darling die ganze Zeit über über das Fell.
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Der letzte Sprung - #Wattys2016
Romansa"Der letzte Sprung" ist die Fortsetzung von "Sprung ins Glück" Wieder geht es um Lisa, die mit Darling 10 Jahre später noch immer erfolgreich Springturniere geht. Auch mit Ben ist sei noch immer glücklich zusammen. Alles ist perfekt, doch dann soll...