Kapitel 17

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Als sie dann warm war rief Mirella mir zu: "Nimm ruhig schon mal das Kreuz da mit!"
Ich schaute mich um und erblickte ein Kreuz, das etwa einen halben Meter hoch war. Das musste Mirella meinen. Nun war es wohl so weit. Seit langem wieder der erste Sprung und dann auch noch ohne Darling. Noch einmal atmete ich tief durch und galoppierte an. Die Stute unter mir spitzte eifrig die Ohren. Ich lenkte sie auf das Hindernis zu und plötzlich kam alles wieder hoch. Sofort sah ich wieder, wie die Stangen des Oxers auf mich zu kommen und hörte das Krachen, als wir mitten in dem Hindernis landeten. Als ich dann auch das hysterische Wiehern von Darling hörte, wendete ich die Stute direkt vor dem Hindernis noch auf der Stelle und sprang von ihrem Rücken. Ich drückte Mirella, die mich verwundert anstarrte, die Zügel in die Hand und rannte mit Tränen in den Augen zu Darlings Box, wo ich mich in die hinterste Ecke verkroch. Immer wieder hallte Darlings Wiehern durch meinen Kopf und immer wieder erschien vor meinem inneren Auge das Bild, wie wir mitten in den zerbrochenen Stangen lagen.

Irgendwann spürte ich, wie jemand sanft einen Arm um mich legte und fragte: "Lisa, was ist los?"
Ich erkannte, dass es Ben war und lehnte mich an seine Schulter. Er zog mich sanft noch etwas näher zu sich und fragte erneut: "Was ist denn los?"
"Ich... Ich kann das nicht.", schluchzte ich.
"Was kannst du nicht?", fragte Ben geduldig.
"Springen."
"Natürlich kannst du springen. Du bist der Champion."
"Nein. Ich kann das nicht mehr. Jedes Mal, wenn ich auf ein Hindernis zu reite sehe ich wieder Darling vor mir, wie sie in den Stangen liegt und wiehert."
Sanft zog Ben mich nun noch etwas näher an sich und sagte beruhigend: "Ganz ruhig. Wir kriegen das schon wieder hin."

Nach einer Weile hatte er es so irgendwie geschafft mich wieder zu beruhigen und ich löste mich langsam wieder von ihm.
"Wollen wir rein?", fragte Ben, aber ich schüttelte mit dem Kopf. Ich wollte jetzt nicht rein und wollte meinen Eltern auch garantiert nicht erklären müssen, warum ich wieder geweint hatte. Stattdessen fragte ich: "Können wir in der SFZ bleiben?"
"Bist du sicher, dass du das willst? Es soll heute Nacht wieder ein Gewitter geben.", fragte Ben. Ich nickte und sagte: "Du bist ja bei mir."
"Okay. Dann komm.", sagte Ben nun und stand auf. Ich stand ebenfalls auf und er legte sanft einen Arm um mich und so gingen wir hoch zur SFZ. Dort setzten wir uns auf die Couch und unterhielten uns noch etwas, bis es draußen stocke dunkel war. Da begann es auch schon zu donnern und die ersten Blitze zuckten über den Himmel. Ben konnte gar nicht so schnell gucken, wie ich auch schon auf seinem Schoß saß und mich an ihm fest krallte. Er nahm mich in den Arm und sagte beruhigend: "Alles ist gut. Ich bin bei dir. Dir passiert nichts."
Für's Erste half das und ich beruhigte mich, aber als dann wieder ein Blitz den Raum erhellte war die ganze Selbstbeherrschung wieder im Eimer und ich krallte mich noch fester an Ben.
"Shhh. Es ist alles okay. Ich bin bei dir.", sagte er wieder und zog mich noch etwas näher zu sich. Plötzlich klopfte es und mit einem Knarren öffnete sich die Tür. Gespannt schaute ich in die Richtung und da kam meine Mutter rein.
"Alles okay bei euch?", fragte sie. Ich nickte und fragte: "Was machst du hier?"
"Dein Vater meinte ihr wärt hier."
Da blitzte es wieder und ich krallte mich schnell wieder an Ben fest. Auch meine Mutter zuckte erschrocken zusammen und fragte: "Darf ich mich zu euch setzen?"
Ben nickte und meine Mutter setzte sich zu uns.
So saßen wir nun zu dritt auf der Couch. Ich auf Bens Schoß und meine Mutter direkt neben uns. Beide krallten wir uns an Ben fest, der einfach ruhig sitzen blieb. Gemeinsam schafften wir es irgendwie das Gewitter zu überstehen und meine Mutter ließ uns nun wieder allein.
"Alles in Ordnung?", fragte Ben mich nun. Ich nickte nur. Mehr bekam ich für's Erste nicht raus.
"Okay.", sagte er. Ich kuschelte mich nun noch etwas näher an ihn, bis ich dann irgendwann einschlief.

Am nächsten Morgen wurde ich dann mal wieder von Ben geweckt.
"Ich muss los.", sagte er. Ich nickte und stand auf. Gemeinsam gingen wir nun in den Stall, wo ich als erstes Devil begrüßte. Ich war gerade dabei ihn zu putzen, als Mirella kam und fragte: "Wollen wir einen neuen Versuch starten?"
Ich schüttelte meinen Kopf. Ich konnte das einfach noch nicht. Vielleicht irgendwann, aber im Moment nicht. Der Unfall war einfach noch nicht lang genug her.
"Okay. Was hast du heute noch so vor?", fragte sie nun.
"Keine Ahnung.", sagte ich. Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber ich fand hier bestimmt noch irgendwas zu tun.
"Ich wollte heute mit Luzius ausreiten. Willst du mit Devil mitkommen?"
"Ja klar!", sagte ich. Somit hatte ich was zu tun gefunden und war zumindest am Vormittag schon mal beschäftigt. Ich putzte Devil nun noch fertig und sattelte ihn dann, um ihn raus zu führen. Dort stieg ich auf und wenig später kam dann auch Mirella mit Luzius und wir ritten gemeinsam zwei Stunden lang durch die Wälder um unser Gestüt herum, bis wir zurück ritten. Dort versorgten wir die Pferde und ich trainierte nun mit Keschen. Diese lief an diesem Tag schon beim Abreiten echt gut und so ging ich zur Geländebahn, wo ich erst einmal ein paar Runden ritt. Als sie auch dort super lief und richtig gut mit arbeitete beschloss ich mit ihr ins Gelände zu gehen und ein bisschen mehr zu trainieren. So ritt ich mit ihr eine der Geländestrecken, die ich schon früher öfter im Training geritten war. Sie war etwa 80 Kilometer lang und für Keschen, die bald einen 100 Kilometer Ritt gehen sollte, das perfekte Training. Auch auf dieser Strecke arbeitete sie super mit und lief sie ohne Schwierigkeiten.

Als ich dann vier Stunden später wieder am Gestüt ankam ließ ich die Stute auf der Gelände Strecke noch zwei Runden am langen Zügel im Schritt laufen, damit sie sich nach dem langen Ritt entspannte. Erst als ich, am Gatter angekommen, durch parierte sah ich, dass Ben dort stand und mir zugesehen hatte.
"Hey!", begrüßte ich ihn und stieg ab.
"Hey. Warst du mit ihr im Gelände?", fragte Ben.
"Ja. Sie war heute echt gut drauf und da hab ich mit ihr die 80 Kilometer Strecke genommen."
"Wie war sie denn so?"
"Richtig gut. Sie lief total locker und entspannt."
"Ja dann steht dem 100 Kilometer Ritt nächste Woche ja nichts mehr im Weg."
"Nein. Die würde jetzt auch mal locker noch weiter laufen."
"Das klingt ja viel versprechend."
"Ja. Außerdem sind das ja auch nur
20 Kilometer mehr, als letzte Woche und Keschen ist schon deutlich weiter gelaufen."
"Ich weiß, aber sie hatte jetzt auch immerhin zwei Jahre Pause, wegen ihrem Fohlen."
"Die Kondition, die sie da verloren hat, hat sie aber locker wieder drin."
"Sie hat ja auch die beste Reiterin."
"Das würde ich so jetzt nicht sagen."
"Doch. Du hast in den zehn Jahren echt gar nichts verlernt."
"Ich reite Distanzritte seit ich denken kann. Da verlernt man das nicht so schnell."
"Du vermisst aber auch das Springen."
"Wie kommst du darauf?"
"Das sehe ich an deinen Blicken, die andauernd zum Springplatz wandern."
"Was für Blicke?"
"Lisa ich bin nicht blind. Ich sehe, wie du dauernd sehnsüchtig zum Springplatz schaust."
"Okay. Vielleicht vermisse ich das Springen, aber ich kann das einfach nicht mehr. Immer, wenn ich auf ein Hindernis zu reite, kommt alles wieder hoch."
"Vielleicht sollten wir einfach ganz langsam wieder anfangen mit Cavalettis und dann langsam immer höher werden?"
"Nein. Ich glaube ich warte einfach noch eine Weile und versuche es dann irgendwann nochmal."
"Okay. Wenn du Hilfe brauchst dann sag Bescheid."
"Danke!", sagte ich und gab ihm einen Kuss. Er erwiderte und half mir noch die Stute zu versorgen. Gemeinsam gingen wir dann rein und aßen noch etwas, bis wir dann zu Bett gingen.

Der letzte Sprung - #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt