Ich bin noch nicht so weit

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Francesca hörte auf zu Spielen und lächelte noch mehr als vorher schon. Auch Maxi, der am Türrahmen lehnte, musste grinsen. Ich war enttäuscht: „Bloß weil das nicht so schön geklungen hat, müsst ihr mich doch nicht gleich auslachen..." „Auslachen?", fragte Francesca verblüfft, „ Wir lachen dich nicht aus, wir freuen uns. Ich hab das Gefühl du singst sogar noch besser als vorher. Das eben war der Wahnsinn." Ich schaute misstrauisch zu Maxi herüber, doch der nickte bestätigend. Ich hatte früher anscheinend gerne gesungen. Ob ich wohl auch Klavier spielen konnte? Ich wollte es schon ausprobieren, doch dann fiel mir mein verletzter Arm ein und ich ließ es doch. Ich wollte Maxi schon fragen, ob er und Francesca auch sangen und woher ich dieses Lied eigentlich kannte, doch irgendwas in mir schien sich dagegen zu sträuben. Ich wollte nichts von meinem alten Leben wissen, denn ich war mir sicher, dass damit eine Menge Schmerzen verbunden waren. Das stolze Grinsen auf Maxis Gesicht verschwand jedoch allmählich und er schlug einen ernsteren Ton an: „Ähm, Ich habe gerade mit dem Arzt telefoniert, Naty, und der meinte, dass du am besten so schnell wie möglich in dein altes Leben zurückkehren solltest." Ich schluckte nervös, ich wollte mein altes Leben nicht. „Du hast mich seit dem Unfall nach nichts gefragt, was mit deinem alten Leben zu tun hatte, aber so geht das nicht mehr weiter. Francesca und ich werden dir heute noch ein paar Dinge aus deinem Leben erzählen und morgen nehmen wir dich dann wieder mit ins Studio", fuhr er fort. Ich schaute Maxi gequält an: „Bitte Maxi, ich bin noch nicht bereit für das Alles. Ich muss erst noch verkraften was mit meiner Familie passiert ist." „Es wird das Beste für dich sein, glaub mir. Wir wollen dir bloß helfen", schaltete sich Francesca ein, dann holte sich ohne weiter zu diskutieren eine großes Fotoalbum aus ihrer Tasche. Auf dem ersten Bild waren drei Mädchen abgebildet, die lächelt die Arme umeinander gelegt hatten. Eine von ihnen war Francesca, die anderen beiden kannte ich nicht. „Schau, das bin ich mit meinen Freundinnen. Das hier ist Camila", sagte sie und zeigte auf das Mädchen links. Sie hatte rotbraunes langes Haar. Dann zeigte sie auf ein Mädchen mit blondbraunen Haar: „Das ist Violetta, meine beste Freundin." Ich war etwas überrascht. War ich etwa nicht mit Francesca befreundet? Und wenn nicht mit ihr, mit wem dann? Danach zeigte mir Maxi ein Foto von sich und fünf anderen Jungs. Sie hießen Broadway, Leon, Andres, Federico und Diego. Zum Schluss zeigten mir die Beiden ein Foto von mir und der Blondine, die mich einmal im Krankenhaus besucht hatte. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte Angst vor ihr. Dann verkündete mir Maxi die schreckliche Botschaft: „So, und das ist Ludmila. Sie ist sozusagen deine beste Freundin." Mir lief kalter Schweiß den Rücken runter. Die Leute auf allen anderen Fotos hatten fröhlich ausgesehen, doch ich war mir sicher, dass ich bei Aufnahme dieses Bildes alles andere als fröhlich gewesen war. „Was meinst du mit „sozusagen"?", fragte ich Maxi unsicher, doch die einzige Antwort, die er mir gab war: „Naja, es ist kompliziert..." Danach beschlossen wir ins Bett zu gehen, da es schon spät war. Maxi schlief unten auf der Couch und Francesca übernachtete mit mir zusammen in meinem Zimmer. Als ich mein Zimmer betrat war ich begeister, es war perfekt. In der Mitte des Raumes lag ein roter runder Teppich auf dem Boden und mein Bett war riesig groß und sah sehr gemütlich aus. Vor der Glastür, die auf einem kleinen Balkon mit einem kleinen Stuhl und einem Tisch führte, hingen rote dünne Vorhänge und die Wände waren allesamt weiß gestrichen. Doch am erstaunlichsten war meine unverkennbare Leidenschaft für die Musik. Meine Wände waren zugeklebt mit lauter Poster eines OneBeat-Studios und auch einigen anderen Bands wie zum Beispiel den Rockbones. Auch ein Schlagzeug und ein Keyboard standen im Zimmer und auf meinem Bett lag eine Gitarre. Ich hatte aber auch einen ganzen Schrank voll mit Büchern und auf meinem Schreibtisch lagen neben zahlreichen Partituren auch noch einige Schulhefte. „Geh ich etwa noch zur Schule?", fragte ich, doch Francesca schüttelte den Kopf: „Du hast kurz vor deinem Unfall den Abschluss gemacht. Ich hab aber leider keine Ahnung wie gut du warst oder auf welche Schule du gegangen bist." Während Francesca in Bad ging um sich für die Nacht fertig zu machen, öffnete ich meinen Kleiderschrank um mir einen Schlafanzug heraus zu nehmen. Ich stellte fest, dass ich erstaunlich viel Kleidung hatte. Das meiste davon waren Jeans und Statement-Shirts, doch ich hatte auch ein paar Kleider, Röcke und sogar Lederjacken. Genau wie in der Einrichtung meines Zimmers war zu erkennen, dass rot und schwarz wohl meine Lieblingsfarben waren.

Als Francesca fertig war ging ich ins Bad. Dort blieb mein Blick am Spiegel hängen. Ich hatte mir seit dem Unfall eigentlich noch keinen Moment über mein Aussehen nachgedacht und war an jeden Spiegel vorbeigelaufen ohne mich dort wirklich anzusehen. Eigentlich wusste ich gar nicht genau wie ich aussah, doch jetzt sah ich mir mein Spiegelbild etwas intensiver an: Schwarze Locken, die mir den Rücken hinunterfielen, nussbraune Augen und volle Lippen. Ich hätte vermutlich sogar beinahe gut ausgesehen wären da nicht die dunklen Ringe unter meinen Augen und die seltsam blasse Farbe, die mein Gesicht angenommen hatte, gewesen. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, Maxi war ins Bad gekommen. Er wurde rot: „Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du im Bad bist." „Schon in Ordnung, ich bin sowieso fertig." Er musste gesehen haben wie ich in den Spiegel geschaut hatte, denn er lächelte liebevoll und sagte: „Du bist so wunderschön Natalia, weißt du das eigentlich? Ich liebe dich." Er trat hinter mich und legte seine Arme um mich, sodass ich mich geborgen und beschützt fühlte. „Ich liebe dich auch", sagte ich. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass ich das gesagt hatte, aber ich war mir recht sicher, dass ich diesen Satz früher schon tausend Mal zu ihm gesagt hatte. Maxi sah furchtbar glücklich und deshalb war ich es auch, obwohl ich schreckliche Angst vor dem morgigen Tag hatte. Ich drehte mich um, so dass ich Maxi direkt in seine wunderschönen Augen sehen konnte. Unsere Lippen kamen sich immer näher und berührten sich beinahe, als ich auf einmal zurückschreckte. Ich wollte ihn unbedingt küssen, doch ich konnte einfach nicht. Ich war noch nicht so weit. „Es tut mir leid, aber ich bin einfach noch nicht so weit", sagte ich traurig und ich hatte Angst, dass er deswegen vielleicht enttäuscht sein könnte. Doch zu meiner großen Überraschung lächelte Maxi verständnisvoll: „Hey Natalia, das ist doch vollkommen okay. Lass dir alle Zeit der Welt und mach dir keine Sorgen ich werde immer auf dich warten. Ich liebe dich über alles." Dankbar fiel ich in seine schützende Umarmung.


Quien soy?-Wer bin ich-Naxi/ViolettaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt