Prolog

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Prolog


Riverton, England, 3 Jahre zuvor

Vor mir stand der Sarg, bedeckt von einem weißen Tuch, umrahmt von verschiedensten Blumenarten, hauptsächlich Nelken . Angeblich waren ihr diese am liebsten gewesen. Dass sie diese Blumenart am meisten mochte war nur eine weitere Information, von der ich hätte wissen sollen. Genau so wie die dass ihr Lieblingspoet Goethe gewesen war, von dessen Gedichten meine Tante verschiedene Zitate rezitierte, um ihrer Rede über die Gutmütigkeit und die liebliche Art ihrer Schwester, das gewisse ‚Etwas' zu verleihen. Wenn es stimmte, wenn meine Mutter tatsächlich der Inbegriff von Gutmütigkeit und Lieblichkeit gewesen war, warum hatte ich dann nie etwas davon spüren dürfen? Warum schien ich die einzige Person auf dieser Beerdigung zu sein, die den Menschen, der direkt vor meinen Augen begraben wurde, gar nicht richtig kannte?

Und trotzdem war ich es, die an diesem grauen, regnerischen Mittwoch die ganze Aufmerksamkeit erhielt. Bemitleidende Blicke, immer wieder ein kurzes Händedrücken und geflüsterte Worte, die mir eigentlich zusprechen sollten, von denen ich aber nicht einmal die Hälfte mitbekam. Stattdessen fühlte sich mein Körper wie in Stein gemeißelt an. Als könne ich mich nicht von der Stelle bewegen, als würde mein Gesicht für immer versteinert bleiben. Nicht einmal den kleinsten Windhauch spürte ich. Und aus dem gesamten Gefühlschaos das sich innerlich in mir abspielte, stach ein Gefühl besonders hevor, Zorn. Gefühle des Zorns gegenüber der Person, die mich verlassen hatte ohne mir vorher auch nur einmal die Chance gegeben zu haben sie wenigstens ein wenig näher kennen zu lernen oder ein Teil von ihrem Leben sein zu dürfen.

Vor dem Sarg lag ein großer Kranz, auf dessen Schleife in goldener Schrift ‚Deine für immer dich liebende Schwester' stand. Und auf dem Sargdeckel lag ein kleiner, weißer Umschlag, der erste und letzte Brief den ich an meine Mutter schrieb. Meine Hand war kalt und am zittern als ich den Brief dort hingelegt hatte während ich die Blicke aller anderen auf mir spüren durfte. Es war als wollten sie durch dein äußeres Auftreten verstehen und erkennen was in dir drinnen vorging. Ich war mehr als froh dass mich keiner tatsächlich durchschauen konnte. Dass ich mich äußerlich nur ihnen allen zu Liebe so verhielt, wie man sich angemessen auf einer Beerdigung verhalten sollte. Innerlich wollte ich schreien, weglaufen, mit geballten Fäusten auf diesen Sarg einschlagen und alle möglichen Vorwürfe von mir lassen. Andererseits war ich gar nicht in der Lage dazu irgendetwas von mir zu lassen, denn mein Körper bestand noch immer aus Stein und meine Hände fühlten sich viel zu schwach an, als dass ich mit ihnen etwas hätte ausrichten können. Der Brief selber hatte sich wie eine ein Liter Flasche angefühlt.

„Nora." Jemand mit einer sehr tiefen Stimme und muffigem Mundgeruch, war so nah an mich heran getreten, dass ich seine flüsternden Worte verstehen konnte „Du solltest dich jetzt verabschieden." Die Worte hallten in meinen Ohren wieder. Aus den Augenwinkeln spürte ich abermals verschiedene Blicke auf mir. Alle schienen darauf zu warten, dass ich nach vorne trat. Ich weiß nicht mehr warum ich genau in dem Augenblick meine Starre löste und meinen Kopf nach links drehte. Meine Augen trafen auf seine. Kaum dass er meinen Blick erwidert hatte, senkte er seinen zu Boden. Nur ein klarer Gedanke blieb in diesem Moment in mir hängen.

Er war zu spät gekommen. Zu spät für das Begräbnis und längst zu spät für mich.

Ich trat nach vorne, senkte den Blick, legte eine kalte Hand auf den Sargdeckel und murmelte ein „Lebewohl Mummy, ich hab dich lieb", bevor ich mich umdrehte und so schnell ich konnte an allen anderen vorbeiflüchtete, weg und davon von diesem Ort.

Der Vollmond schien in das Zimmer hinein und warf einen hellen Schein auf das Bett. Ich kauerte auf der Fensternische, mein Blick war auf die sich im Wind leicht hin und her wiegenden Äste gerichtet. Mit dem heutigen Tag war ein Jahr vergangen, wie ich es mir nie erträumt hätte. Ein Jahr das einem Albtraum glich und ich wusste dass ich, trotz allem anderen, mein eigener Feind war und es weiterhin sein würde, sollte sich nicht bald irgendetwas ändern. Eine vereinzelte Träne kullerte über meine Wange, danach noch eine und noch eine. Zum ersten Mal heute weinte ich.

Eine warme Hand legte sich vorsichtig auf meinen Arm, als könne ich jeden Moment davonschrecken.

„Wie lange sitzt du da schon?"

„Lange genug", entgegnete ich leise ohne aufzusehen.

„Lange genug wofür?"

„Um eine Entscheidung getroffen zu haben."

Er entgegnete nichts mehr. Das musste er auch nicht.

Nach all den Jahren die wir bereits miteinander geteilt hatten, wusste ich, dass er wusste was als nächstes kommen würde. Und das er Angst vor dem hatte was ich in dem folgenden Moment sagen würde. Nur konnte er nicht wissen dass ich selber viel größere Angst hatte.

„Ich werde wegziehen. Nach New York. Und dieses Mal für immer. Und ich kann nicht mehr mit dir zusammen bleiben."

Die sich ausbreitende Stille hätte nicht düsterer sein können.



What about tomorrow?(Fortsetzung von OWOA)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt