Kapitel 6 ~ Verständnis

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Es war ein kleines, traditionelles und japanisches Häuschen, das ich erblickte, als wir im Hof einbogen. Hier wohnt er also.
"Wir sind da.", meinte Igaro, stieg aus und öffnete mir auf der anderen Seite die Autotür.
"Danke.", gab ich ihm als höfliche Geste zurück. Er lächelte leicht.

Als wir das Haus betraten, kam eine ältere Frau aus einem der Räume in den Flur.
"Hallo. Bin wieder da.", kündigte er sich an.
"Was so früh sch..."
Sie stoppte mitten im Satz, als sie mich hinter ihm hervorkommen sah und bekam ganz große Augen. "W..wer ist das?"
"Das ist Yuki. Eine Klassenkameradin. Ach ja und Yuki?"
"Ja?"
"Das ist meine Mutter Miho."
"Es freut mich sie kennenzulernen, Miho-san.", begrüßte ich sie.
"Freut mich auch.", gab sie als Antwort und schüttelte mir die Hand.
Wir zogen unsere Schuhe am Eingang aus. Seine Mutter sah uns weiterhin an. Wahrscheinlich denkt sie, wir wären...ein Paar.
Bevor wir in den ersten Stock gingen, fragte uns Miho noch ob wir Tee wollten. Wir lehnten höflich ab, wobei ich schon gern einen gehabt hätte. Nun waren wir in seinem Zimmer. Es sah ziemlich ordentlich und gemütlich aus. Ich saß mich auf seinen Schreibtischstuhl. Ich hatte es für eine Weile vergessen, was vor ein paar Minuten geschehen war, doch leider kam es mir jetzt genau wieder in den Kopf. Diese Bilder werden mir wohl nicht mehr so schnell aus dem Kopf gehen.
Igaro saß sich auf sein Bett, sodass er mir gegenüber saß.

"Ziemlich scheiße gelaufen heute, ich hätte besser auf dich Acht geben müssen.", sorgte sich Igaro und wurde wütend - auf sich selbst.
Ich ließ den Kopf leicht hängen, versuchte aber nicht zu weinen. "Es ist nicht deine Schuld. Du musst nicht für mich den Beschützer spielen. Was für einen Grund hättest du?", sprudelte es aus mir heraus. Während er mit mir redete, spielte er mit seinem braunen Lederarmband.
"Du weißt warum."
Ich schüttelte den Kopf und blickte ihn fragwürdig an.
"Wenn ich dir das sagen würde, dann wärst du auf ewig mit mir sauer." Ich stand auf und lief zur Tür, doch er hielt mich fest und bat mich, nicht zu gehen. Ich war zu schwach, mich von ihm zu lösen. Eigentlich wollte ich ja auch nicht gehen, aber wenn ich was hasste, dann waren es Lügen.
"Erzähl es mir.", forderte ich ihn auf und sah an die Wand, an der sich lauter Anime Poster befanden, von verschiedenen Serien.
"Na...schön. Naja, also...damals warst du ja auch schon in meiner Parallelklasse, erinnerst du dich?"
Ich nickte nur.
"Du wurdest in dieser Schule ja auch bereits gemobbt. Weißt du noch der Fall, als du von der Treppe gefallen bist...zwei Stockwerke? Man hat dich...geschubst. Und naja...ich war das. Man hat mich dazu gezwungen.", erzählte er mir in Kurzform und traute sich gar nicht mehr in meine Augen zu blicken.
"Du warst das? Ich glaub es ja nicht. Ich...du weißt, ich hätte...blöd aufkommen können?", schrie ich lauthals und verschränkte die Arme.
Er sagte eine Weile gar nichts mehr und starrte auf den blitzeblanken Boden.
"Es...es tut mir so furchtbar leid, Yuki. Ich würde dazu gezwungen. Auch ich...war damals ein Mobbing Opfer. Sie sagten mir, das sie mich in Ruhe lassen würden, wenn ich das tun würde - doch dieses Versprechen haben sie nicht gehalten. Sie machten weiter und ließen mich nie in Ruhe. Ich war damals noch jung und unbesonnen. Ich war mir der Folgen gar nicht mehr bewusst.", fügte er hinzu und kam zu mir. Momentan konnte ich mich nicht bewegen, immerhin war es eine Tat mehr, die ich nun erfuhr. Es half mir im Moment auch nicht weiter, die 'versuchte Vergewaltigung' zu vergessen.

"Du weißt nun davon. Seitdem hab ich ein schlechtes Gewissen und ich hab Mitleid. Schließlich fühlte ich dasselbe, wie du damals und jetzt auch noch fühlst. Ich möchte dich deshalb beschützen und das von damals wieder gut machen, auch wenn es nicht mehr ganz gut zu machen ist. Ich weiß wie es ist, gemobbt zu werden. Doch diese Tat heute ist viel schlimmer gewesen. Dieser Mensch, der es versucht hat und seine Freunde sind schlimm!", regte sich Igaro auf und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.
"Du musst ihn anzeigen.", forderte er mich auf.
"Wenn ich das tue, bin ich geliefert. Vielleicht sagt er seinen Freunden dann, sie sollen Rache an mir ausüben oder er kommt wieder zurück!", weinte ich und flog fast vom Stuhl. Igaro bittete mich aufs Bett zu sitzen, was ich anschließend tat.
"Yuki. Wenn das rauskommt, was er vorhatte, fliegt er aus der Schule. Er kann dir dann nichts mehr anhaben, glaub mir.", versicherte er mir, während er sich wieder neben mich aufs Bett saß.

Plötzlich wurde mir ganz warm und mein Herz fing schneller an zu schlagen. Bilde ich mir das nur ein, oder ließ ich gerade wirklich meinen Kopf auf seine Schulter fallen?
Als ich bemerkte, das es Realität war, raffte ich mich wieder in die aufrechte Position.
"Entschuldige."
"Kein Problem. Du bist bestimmt fertig nach dem heutigen Tag. Morgen schwänzen wir und zeigen ihn an. Anschließend müssen wir dich ablenken und was unternehmen. Es gibt auch noch gute Seiten im Leben - und die - sollst du kennenlernen.", lächelte er und streichelte mir durchs Haar. Und wieder wurde mir ganz warm. Er war so sanftmütig und verständnisvoll. Das war ich gar nicht gewohnt.
Es ist zwar falsch zu schwänzen, aber ich hielt es keinen Tag länger an dieser Schule aus, so lange dieser Depp dort rumläuft.
Wir müssen ihn anzeigen. Sonst demütigt er mich noch länger. Ich stimmte Igaro's Angebot zu.

Gegen Abend sahen wir uns noch einen Film an und ich vergaß die Zeit. Ich schlief neben ihm ein und hatte daheim nicht mehr Bescheid gesagt, das ich im Moment bei Igaro war. Doch das kann warten.

In der Nacht um 1 Uhr klingelte mein Handy.
Igaro war nicht mehr im Zimmer.
Ich hob ab. "Hallo?"
"Sag mal Yuki? Geht's noch?! Du bist immer noch nicht daheim und gibst mir nicht Bescheid? Wo bist du?", hörte ich eine besorgte Stimme am anderen Ende. Er war meine Mutter.
"Tut mir echt leid, Mom. Ich hab vergessen dir Bescheid zu sagen. Ich bin bei einer Freundin über Nacht. Mir geht es aber im Moment nicht so gut. Ich werde morgen nicht zur Schule gehen.", log ich sie teilweise an und rieb mir die Augen.
Meine Mutter seufzte nur am anderen Ende.
"Sag mir nächstes Mal bitte Bescheid! Komm morgen früh gegen 8 Uhr bitte heim.", befahl mir meine Mutter. Sie machte sich wahrscheinlich riesen Sorgen, aber gestern Abend war mir alles egal.
"Okay Mama, mach ich. Hab dich lieb.", gab ich als Antwort. Anschließend legten wir beide auf. Ich schlief weiter und hoffte, das morgen ein besserer Tag werden würde.

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