#2 - "Das Vorstellungsgespräch"

66 6 6
                                    


"Guten Morgen Ms. Silver."
Sie schaute mir direkt in die Augen. Keine Regung in ihrem Gesicht, keine Anzeichen, dass sie mich erkannt hat.
"G..Guten Morgen Ms. Sky!", antwortete ich leicht nervös und biss mir auf die Lippen.
Kurz wendete sie ihren Blick ab, um auf die Uhr zu schauen.
"Zwei Minuten."
Verständnislos sah ich sie an.
Zwei Minuten?
"Sie sind zwei Minuten zu spät", wiederholte die Sekretärin.
"Vielen Dank für Ihr Erscheinen, Sie können wieder gehen."
Was? Das kann doch nicht sein. Schnell blickte ich auf die Uhr.
9:16 Uhr.
Das sind keine zwei Minuten! Das ist eine!
Verdammt, wieso habe ich vorher nur so getrödelt?
"E...Entschuldigung, ich...ich-"
Sie unterbrach mich.
"Leute wie Sie können wir hier in unserem Unternehmen nicht gebrauchen. Wir legen sehr viel Wert auf Pünktlichkeit. Wenn Sie sogar an einem einfachen Vorstellungsgespräch nicht pünktlich kommen können, wie sollen wir uns auf Sie verlassen können?"
Sie leierte die Sätze so runter, ohne jegliche Emotionen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie widmete sich wieder ihrem Computer. Sie klickte etwas herum und schien etwas zu lesen. Wie versteinert blieb ich aber stehen und sah sie an. Einige Sekunden später wandte Sie mir wieder ihre Aufmerksamkeit zu.
"Da dies aber schon Ihr fünftes Vorstellungsgespräch ist, drücke ich ein Auge zu. Obwohl man meinen würde, dass man aus seinen Fehlern lernen müsse."
Geschockt sah ich Ms. Sky an.
Woher wusste sie, dass das mein fünftes Vorstellungsgespräch war? Anstatt sich zu entschuldigen lachte sie und zog ihre Augenbrauen zusammen.
"Schätzchen, so etwas spricht sich schnell herum. Falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten, wir sind eine der größten Firmen Europas. Auch wenn wir pro Tag, inklusive unserer Subunternehmen, mehr als 1000 Bewerber haben, eine Lauren Silver, die sich in vier von unseren Sub- bzw. Partnerunternehmen vorgestellt hat und jedes Mal abgelehnt wurde, bleibt einem schon im Gedächtnis. Sie wissen, dass wir auch untereinander kommunizieren, nicht wahr?"
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ihr abschätziger Tonfall lies mich erzittern, meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich kann doch nichts dafür, dass ich jedes Mal abgelehnt wurde.
"Setzen Sie sich", befahl Ms. Sky und deutete auf einen Stuhl vor ihrem Tisch.
Langsam begab ich mich dorthin und setzte mich, dabei war mein Blick immer auf sie geheftet. So saß sie da, ihre Augen auf meine Bewerbungsmappe, die vor ihr lag, gerichtet. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden. Schließlich hob sie ihren Kopf, faltete ihre Hände auf dem Tisch und fragte:
"Wie geht es Ihnen?" Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick. Schnell sah ich weg. Ich konnte diesen Blick noch nie standhalten, weder früher noch heute.
"Gut", antwortete ich auf ihre dämliche Frage und hob wieder den Blick. Was sollte dieser Smalltalk?
"Schön. Freut mich."

Ja klar!

"Also, hier steht, dass Sie schon einmal hier gearbeitet haben. Jedoch mit Mrs. Young, stimmt das?

Statt zu antworten nickte ich.
Mrs. Young war damals eine ältere Dame, so um die 60 Jahre. Sie war die Assistentin des Chefs, Mr. Hammilton, eine sehr fürsorgliche und freundliche Person, die immer viele Geschichten parat hatte, die sie mir dann auch in den Mittagspausen mit glänzenden Augen erzählt hat. Bei ihr konnte man wirklich viel lernen, nicht nur Kopieren und Kaffee holen wie bei vielen anderen. Das habe ich sehr an ihr geschätzt.

"Dann haben Sie also schon ein klein wenig Erfahrung sammeln können?"
Wieder nickte ich.
Sie klappte meine Bewerbungsmappe zu, stand auf und glättete ihren schwarzen Rock.
"Gut, ich komme gleich wieder. Ich muss noch mit dem Chef reden. Bleiben Sie ruhig sitzen, dauert nicht lange."
Mit diesen Worten nahm sie meine Bewerbungsmappe und stöckelte auf ihren hohen Schuhen auf eine Tür zu, die wohl zum Chefzimmer führte.
Hoffnungslos blickte ich ihr hinterher, bis sie dann die Tür hinter sich schloss und im anderen Zimmer verschwand. Zurück blieb ich, alleine im Zimmer. Das Einzige was ich hörte war das nervige Ticken der Uhr, das mich nicht im geringsten beruhigte. Meine Hände fingen an zu schwitzen und ich zuppelte nervös an meinem Zopf herum.
Die Chancen stehen ziemlich schlecht, dass ich angenommen werde.

You promised me...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt