#9 - "Die Vergangenheit"

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Sorry für die Verspätung...Als kleine Wiedergutmachung gibt es morgen ein weiteres Kapitel, das hoffentlich besser wird :)

****

Das warme Wasser prallte auf meine Haut und ich schloss meine Augen. Immer und immer wieder schwirrte mir die eine Frage im Kopf herum.

Empfinde ich etwas für ihn?

Ja? Nein?

Ich wusste es einfach nicht. Egal wie sehr und wie viel ich darüber nachdachte, mir wollte keine Antwort einfallen.
Seufzend stellte ich das Wasser ab, wickelte mich in mein Handtuch und stieg aus der Dusche. Schnell zog ich mir Unterwäsche an bevor ich in mein Zimmer ging und meine Schlafsachen herauskramte.
Ich schlafe immer mit Unterwäsche.

Zögerlich ging ich zum Spiegel und stellte mich davor.
Und dann lies ich das Handtuch fallen. Das erste was mir sofort in die Augen sprang war die rote Narbe, die quer über meinem Bauch verlief.
So stand ich da und starre diese krumme Linie an. Ich hob meine Hand und fuhr langsam die Narbe nach. Tränen stiegen in meine Augen und ich liesen mich leise aufschluchzen.
"Mom...Dad...", flüsterte ich und lies meinen Tränen nun freien Lauf.
Jeden Abend, jeden verdammten Abend, stehe ich vor dem Spiegel und werde jedes Mal in die Vergangenheit zurück katapultiert.

"Mooooom! Daaaaad! Lucas schlägt mich!", rief ich zu meinen Eltern, die vorne im Auto saßen und verschränkte die Arme.
"Jetzt sei nicht beleidigt du kleine Hexe", zischte Lucas neben mir und funkelte mich böse.
"Kinder! Hört auf mit den ständigen Streitereien! Ihr führt euch auf wie kleine Kinder."
Empört schnappte ich nach Luft, Lucas tat es mir gleich.
"Da gebe ich eurer Mutter recht. Und ihr sollt 20 und 24 sein?"
Ich sah durch den Rückspiegel wie Dad schmunzelte und Mom mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Dann drehte sich Mom zu uns um und das verräterische Glitzern in ihren Augen zeigte uns, dass sie gar nicht sauer war.
"Ihr beiden süßen Kinder, ihr sollt bitte für die nächsten Minuten eure Klappe halten, wäre das zu viel verlangt?", fragte sie lachend und drehte sich wieder nach vorne.

Bevor wir ihrer Bitte nachkommen konnten, lief plötzlich das allseits bekannte Lied im Radio, bei dem Lucas und ich immer wieder laut mitsingen mussten.

All about that bass.

Das war eine Art Ritual bei uns. Egal wo wir es hörten, wir sangen es immer mit.

"Because you know I'm all about that bass, 'bout that bass, no treble", sang Lucas und nahm seine Faust als Mikrofon.
Bevor auch ich mitsang, hörte ich Mom noch zu Dad sagen: "Das wars wohl mit der Ruhe für die nächsten paar Minuten."

Nach dem Lied lachten wir beide laut. "Tut mir Leid Bruderherz, aber du hast keinen einzigen Ton getroffen. Das war schrecklich, wie immer", neckte ich ihn und streckte ihm die Zunge heraus.
"Wer ist hier bitte unmusikalisch?", fragte er nach und zog eine Augenbraue hoch.
"Ganz sicher nicht ich."
"Jaja."
"Ja!"
"Wer sagt das?"
"Ich!"
"Ich aber nicht!"
"Ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt!"
"Mir egal!"
"MOM!", rief ich ein zweites Mal nach vorne und verschränkte meine Arme.
Mom seufzte und drehte sich wieder zu uns um.
"Könnt ihr keine Ruhe geben? Ich dachte ihr seid aus dem Alter raus." Sie seufzte ein weiteres Mal und sagte dann: "Lucas, auch wenn du unser Sohn bist, muss ich Lauren leider recht geben. Du bist sehr unmusikalisch. Von wem hast du das bloß geerbt?" Ein Lächeln bildete sich auf Moms Gesicht und sie zwinkerte mir zu.
Siesgessicher blickte ich zu Lucas und sah ihn verschmitzt an.
"Aber sowas sagt man nicht zu seinem großen Bruder", mischte sich nun auch Dad ein. Er wandte seinen Kopf zu uns.
Diesmal war Lucas dran mit dem siegessicheren Lächeln.

Plötzlich rief Lucas panisch nach Dad.
Ruckartig drehten sowohl Mom und ich uns zur Straße hin, doch da war es schon zu spät. Vor uns bremste ein großer LKW und weichte nach rechts aus. Sein Anhänger schwang dabei nach links aus.
Trotz des Bremsmanövers meines Dads führen wir immernoch mit einer viel zu hohen Geschwindigkeit direkt in den Anhänger des LKWs hinein.
Das nächste was ich hörte waren Reifenquietschen und das zersplittern von Glas. Dann befand ich mich plötzlich in der Luft und landete keine Sekunde später direkt mit dem Kopf auf den harten Asphalt. Mein Bauch schmerzte höllisch, ich wimmerte vor Schmerz und versuchte die Augen offen zu halten.
Irgendetwas Warmes floss an meiner Wange entlang, doch ich hatte nicht die Kraft dazu nachzusehen was das war.
Ich sah verschwommene Umrisse von Menschen, die schnell auf mich zurannten und etwas riefen. Verstehen konnte ich jedoch nichts.
Mein Blick fand nach einiger Zeit unser Auto, das vollkommen zerstört war. Von Lucas, Mom und Dad keine Spur.
Die Stimmen um mich herum wurden immer leiser und leiser, bis sich meine Augen wie von selbst schlossen und ich in ein tiefes schwarzes Loch fiel.

Das war das letzte Mal, dass ich Mom und Dad gesehen habe. Das letzte Mal in meinem ganzen Leben. Lucas und ich hatten Glück...viel zu viel Glück. Sozusagen Glück im Unglück hat der Arzt gesagt, doch ich empfand es überhaupt nicht so. Ich wollte Mom und Dad wieder haben. Ich vermisste sie. Wieso sollte man es dann Glück nennen, wenn die Menschen, die einem immer lieben, egal bei was man gemacht hat, auf einmal nicht mehr da sind? Ich wollte es nicht verstehen. Ich wollte es nicht Glück nennen, denn das war kein Glück. Nicht für mich.

Ein weiteres Schluchzen entwich meinem Mund, den ich mit meiner Hand versucht zu dämpfen.
Ich vermisste sie so sehr.
Es war alles meine Schuld, dass wir in den LKW gefahren sind. Hätte ich damals nicht den blöden Streit angefangen wäre es gar nicht erst zu dem Unfall gekommen.
Die Narbe erinnerte mich jedes Mal an diesen Unfall, erinnerte mich jedes Mal an meine Sturheit und mein kindliches Verhalten. An den Tod meiner Eltern.
Das werde ich mir niemals verzeihen können.
"Lauren?", höre ich Lucas von draußen rufen und gegen meine Tür klopfen.
Ich wischte mir meine Tränen weg und zog schnell meine Schlafsachen an.
Dann schlich ich mich zur Tür und öffnete diese einen kleinen Spalt. Ich guckte ihn nicht an. Ich wollte nicht, dass er sah, dass ich wieder geweint habe.
"Was ist denn?", fragte ich ihn leise.
"Was ist los?"
"Nichts.."
Augenblicklich machte Lucas die Tür sanft weiter auf. Ich lies ihn.
Mit gesenktem Kopf beobachtete ich wie die Wassertropfen von meinen nassen Haaren auf den Boden tropften.
Aus den Augenwinkeln sah ich wie Lucas seinen Blick durch mein Zimmer schweifen lies. Und dann starrte er eine Stelle an, wahrscheinlich die Pfütze vor dem Spiegel.
"Ach Lauren...", murmelte er und schloss mich in eine feste Umarmung. Er drückte mir einen Kuss auf den Scheitel.
"Wie oft haben wir schon darüber gesprochen?", fragte er leise.
Ich schüttelte einfach nur den Kopf. "Ich vermisse sie so sehr...", antwortete ich und dann passierte es noch einmal. Ich lies meinen Tränen freien Lauf und klammerte mich an Lucas.
So als wäre ich ein kleines hilfloses Kind. Ein kleines Kind, das ohne seine Eltern nicht leben kann.

You promised me...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt