Kapitel 2.

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Lautes Schreien weckte mich. Sofort riss ich die Augen auf und drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der das Schreien kam. Kyla saß auf dem Sitz neben mir, sie zitterte und schwitzte. Einige Leute sahen schon verärgert zu uns hinüber.

"Pssst...", versuchte ich sie zu beruhigen. "Alles ist gut, Kyla."
Sie hörte auf zu zittern und schrie auch nicht mehr. Erleichtert ließ ich mich in meinen Sitz fallen und sah auf den Bordbildschirm. Es war schon kurz nach Mitternacht.

Nachdem wir gestern bei Oma vorbeigefahren, und das Auto und den Haustürschlüssel abgegeben hatten, waren wir mit einem Taxi weitergefahren.

Ich sah aus dem Fenster, neben dem meine kleine Schwester saß. Sie hatte drauf bestanden, dort sitzen zu können. Dann wurde plötzlich das Anschnallsymbol angezeigt. Ich schallte erst mich, dann Kyla an. Sie schlief noch immer seelenruhig, weshalb ich beschloss, sie zu wecken.

"Kyla...", flüsterte ich dicht an ihrem Ohr und sie bewegte sich etwas. "Wir landen gleich. Wach auf!" Dann öffnete sie die Augen.
"Sky, ich hab geträumt, dass Rosie gestorben ist!", murmlete sie verschlafen und mit besorgtem Blick.
"Ich weiß. Du hast ziemlich laut geschrien", ich kicherte und auch sie grinste.

Als das Flugzeug auf dem Boden aufkam, applaudierten einige Passagiere, unter anderem meine Mutter.

Nachdem wir den Flughafen verließen, sah ich mich um nach einem Taxi. Meine Mutter hatte gesagt, dass wir abgeholt werden würden. Mit zerstrubbelten Haaren und Augenringen sah ich wahrscheinlich aus wie ein Zombie. Der Koffer, den ich hinter mir her zog war sehr klein, da ein Großteil unserer Sachen schon in der neuen Wohnung war.

"Susan", hörte ich eine erfreute Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah einen Mann, der ungefähr so alt war wie meine Mutter auf uns zulaufen. Er hatte dunkel-braune Haare und war sehr ordentlich gekleidet. Verwirrt und zugleich fassungslos starrte ich meine Mutter an.

"Mum?", wagte ich es irgendwann zu fragen. Sie wendete sich von dem Mann ab und lächelte uns unschuldig an.
"Ähm...", begann sie irgendwann. "Das hier ist Calab mein neuer Freund."
"Warum hast du uns das nicht gesagt?", fragte Kyla und fuhr sich mit der linken Hand durchs die Haare.
"Ich wusste doch, ihr würdet dann nicht mitkommen. Und was eure Großmutter dazu gesagt hätte, will ich gar nicht wissen. Aber seid doch froh, dass wir in ein bereits bewohntes Haus ziehen können."
"Na toll...", murmelte ich und drehte mich beleidigt weg.

Im Auto saß ich mit verschränkten Armen und starrte aus dem Fenster. Die Straßen waren hell erleuchtet und überall liefen Leute durch die Gassen. Ich hatte noch nie in einer Großstadt gelebt. Ich war noch nicht einmal in einer gewesen. Hamburg, Berlin und auch Bremen waren mir völlig fremd. Wie sollte es mir denn dann hier in London ergehen?

"Und, ähm...", Calab räusperte sich. "Wir war der Flug?", versuchte er ein Gespräch anzufangen. Ich richtete meinen Blick kurz auf ihn.
"Gut.", kam es von Kyla und mir gleichzeitig. Normalerweise mussten wir darüber lachen, wenn wir gleichzeitig redeten, doch danach war uns grade garnicht zu Mute. Die Stimmung war regelrecht im Keller.

Nach zahlreichen Versuchen gab Calab es auf, ein Gespräch mit uns anzufangen.
"Wisst ihr, Calab hat auch noch einen Sohn", begann nun meine Mutter. "Er ist etwas älter als du, Sky. Grayson heißt er, richtig?" Calab nickte, ohne die Augen von der Straße zu richten.

Na toll. Jetzt musste ich auch noch mit einem gleichaltrigen Jungen zusammenleben. Wahrscheinlich war er der totale Nerd, wenn man nach Calab ging. Immerhin trug der etwas ältere Mann einen Anzug mit Krawatte. Nach einer Weile fiel ich in einen leichten Dämmerschlaf.

"Wir sind da", weckte mich Calab, als wir in eine lange Hofeinfahrt fuhren. Überall am Rand waren Beete oder einfach Bäume. Als ich meine Beine aus dem Auto schwang, fiel mein Blick sofort auf das riesige Haus. Es bestand zur Hälfte aus schwarzem Schiefer, war aber auch an einigen freien Stellen mit einem in der Nacht leuchtenden weiß bestrichen.
"Wartet kurz", meinte Calab, nachdem er meiner Mutter aus dem Auto geholfen hatte. Dann lief er mit schnellen Schritten zum Haus und ließ uns alleine in der schwarzen Nacht stehen.

"Gefällt es euch?", fragte meine Mutter nach einer Weile in die Dunkelheit hinein.
"Es ist groß...", meinte ich.
"Sehr groß.", ergänzte Kyla und ich hörte das Staunen in ihrer Stimme.
"Schön." Damit war das Gespräch wieder beendet.

Als Calab wiederkam wurde er begleitet von einem großen Jungen.
"Das ist Grayson", meinte er fröhlich als sie bei uns ankamen.
"Hallo Grayson, du bist aber groß geworden", meinte meine Mutter sofort, als sie ihn sah und ich schlug mir innerlich gegen die Stirn. Wie peinlich. "Das letzte Mal warst du noch 13. So alt wie Kyla."

Damit fiel sein Block auf Kyla. Dann auf mich. "Hi", murmelte er.
"Grayson", meldete sich nun auch Calab wieder zu Wort. "Hilf Kyla und Skylar doch bitte beim Tragen und zeig ihnen ihre Zimmer!"

Grayson nickte und lief zum Auto, um die Koffer zu holen. Grade, als er meinen Koffer nehmen wollte, nahm ich ihn ihm schnell aus der Hand.
"Danke, aber den kann ich selbst tragen", sagte ich und stellte ich auf den Boden.
"Wenn du meinst", murmelte er kopfschüttelnd.

Hinter der Haustür erwartete uns ein langer, weißer Korridor, in dem viele Bilder hingen. Als wir hindurch gingen, fiel mir eines von Picasso ins Auge.
"Ich will dich jetzt nicht stören, aber kannst du dir das vielleicht morgen anschauen?", fragte mich Grayson plötzlich. Er klang ungeduldig und er und Kyla waren schon an der Treppe am Ende des Korridores angelangt. Mir fiel erst jetzt auf, dass ich stehen geblieben war. Eilig folgte ich den beiden zur Treppe.

"Warum nehmen wir nicht den Aufzug?", fragte Kyla neugierig, als Grayson mit ihrem Koffer die Treppe hochlief.
"Weil der momentan außer Betrieb ist", sagte Grayson leicht genervt.

Unsere Zimmer befanden sich in der ersten Etage dieses Haus. Wie ich später erfuhr, besaß es noch eine zweite Etage, die aber vom Personal bewohnt wurde. Kylas Zimmer war direkt neben der Treppe. Grayson stellte ihren Koffer vor der Tür ab.
"Gute Nacht...", murmelte er und ging weiter. Ich folgte ihm.

Mein Zimmer befand sich ganz am Ende des Ganges. Es war sehr groß und in der Mitte stand ein Himmelbett. Die Kartons mit den Sachen von Zuhause standen neben dem Fenster und ich besaß einen begehbaren Kleiderschrank.
"Noch Fragen?", riss mich Grayson aus meinen Gedanken.
"Was befindet sich hinter dieser Tür?", fragte ich sofort neugierig und wies auf eine weiße Tür, die auf der anderen Seite des Bettes war.
"Dein Bad."
Ich nickte und setzte mich probehalber aufs Bett.
"Es wird schon gemütlich sein...", murmelte Grayson und drehte sich um. Bevor er die Tür schloss, schaute er mich noch einmal an.
"Gute Nacht", sagte er leise und schloss die Tür. Somit ließ er mich im Dunkeln zurück.

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