Es dauerte einige Tage, bevor schließlich ein Dienstbote einen blütenweißen Briefumschlag brachte, auf dem in goldener, schwungvoller Schrift mein Name geschrieben stand. Es schien, als wäre er für mich persönlich bestimmt, doch meine Eltern nahmen ihn trotzdem an sich und ließen ihn mich nicht lesen. Sie schienen nicht sonderlich überrascht darüber zu sein, dass ich als Teilnehmerin angenommen worden war, und zeigten mir auch nicht ihre Freude darüber. Das stärkte meine Vermutung, dass sie auch hier wieder ihre Finger im Spiel gehabt hatten.
Das Einzige, was ich nachträglich erfuhr, war, dass insgesamt nur zehn junge Frauen angenommen worden waren, eine aus jedem Bezirk. Dadurch wuchs der Druck auf mich noch mehr, denn ich repräsentierte hiermit also als einzige die Hauptstadt Horace, dementsprechend hoch lagen die Erwartungen an mir. Wer die weiteren neun Bezirke Solace, Lowry, Valy, Calasanz, Barstow, Cáceres, Purefoy, Nataly und Ishbel repräsentierte würde, würde ich wohl erst später erfahren, obwohl es bereits einige junge Frauen gab, die ich mir vorstellen konnte.
Trotzdem ärgerte es mich, nicht zu wissen, was in dem Schreiben stand, gerade weil es eigentlich für mich persönlich gedacht gewesen war. Ob die anderen Mädchen ihre Briefe selber lesen durften? Ich wusste es nicht. Mir war aber klar, dass meine Eltern einen deutlich stärkeren Kontrollzwang an den Tag legten als die meisten Adeligen. Zwanghaft mussten sie alles bestimmen, sonst begannen sie, nervös zu werden, und ließen mich dies oft genug spüren. Ihr stetiger Hunger nach mehr Macht hatte sich über die Jahre immer mehr gemehrt und ich wusste, dass sie inzwischen zu allem bereit waren, um ihre Ziele zu erreichen.
Als ich in die selbstgefälligen dunklen Augen meines Vaters an diesem Abend sah, durchfurch mich ein gefährlicher Gedanke wie ein Stich. Was wäre, wenn ich mich, nur dieses eine Mal, ihnen widersetzen würde? Was wäre, wenn ich des Nachts einfach in ihr Arbeitszimmer gehen würde und dieses Schreiben lesen würde? So klein dieser Gedanke, so gefährlich war er doch. Er war erst nur ein kleiner Funke gewesen, ein kleiner nebensächlicher Gedanke, der aber beständig wuchs und schließlich mein gesamtes Denken einnahm. Es war der erste kleine Schritt hinaus aus der Kontrolle und hinein in die Freiheit, nach der ich mich heimlich sehnte. Statt ihn, wie es sonst meine Art war, immer wieder zu durchdenken, ließ ich einfach mein verkümmertes, geschändetes Herz entscheiden.
*
Mit der Ungeduld in meiner Seele lag ich wach in meinem großen Bett, bis alle Lichter im Haus erloschen waren und ich mir sicher sein konnte, dass alle schliefen.
Voller Nervosität stieg ich aus meinem warmen, weichen Decken, welche nach mir zu rufen schien.
Leg dich wieder hin oder willst du dir wieder Ärger einhandeln? Jahrelang warst du tadellos, doch anscheinend willst du mal wieder gezüchtigt werden... Vermisst du etwa den Schmerz? Vermisst du die Hand auf deiner Haut? Sehnst du dich bereits so sehr nach Liebe, nach Berührung, dass du bereits den Schmerz, den sie mit sich bringt, in Kauf nimmst?
Es dauerte einige Momente, bis ich begriff, dass ich sie mir nur einbildete. Es schien fast so, als wären die Worte meiner Mutter ständig in meinem Kopf und tadelten mich bei allem, was ich tat. Langsam schloss ich die Augen und atmete tief ein und aus, bis sich die Unruhe in mir etwas legte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und für einen Moment hatte ich die absurde Angst, dass jeder im Haus meine zitternden, abgehackten Atemzüge hören konnte.
Zögerlich öffnete ich meine Zimmertür und tat dann den entscheidenden Schritt auf den Teppich im Flur. Ich schaute den langen Gang entlang, welcher weiter ins Innere des Hauses führte. Er schien von der Dunkelheit der Nacht verschluckt zu werden, alleine einzelne Strahlen des Mondes, die durch die wenigen Fenster hindurch schienen, erhellten mir den Weg ein wenig. Auf nackten Fußsohlen huschte ich durch die Flure und zuckte bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen. Alleine durch die tief ausgeprägte Neugier in mir schaffte ich es schließlich, mich zu überwinden und nicht umzukehren, bis ich schließlich vor der großen Tür stand, hinter der sich mein Ziel verbarg. Sie wirkte riesig und ließ mich unwillkürlich noch kleiner und unbedeutend fühlen. Schützend schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper, in dem Versuch, mir selber Halt zu geben. Der bedrohliche Gedanke, was mit mir passieren würde, wenn sie mich hier entdecken würden, schlich sich in mein Denken. Unbarmherzig ignorierte ich ihn und drückte stattdessen die kühle, reich verzierte Türklinke herunter. Mein Herz schien für einen Moment stillzustehen, als sie leicht knarzte, und ich hielt mitten in der Bewegung inne, doch niemand stand plötzlich hinter mir und legte eine Hand auf meine Schulter, um mich wieder zurück zu meinem Zimmer zu geleiten. Nach einigen, sich quälend langsam hinziehenden Sekunden des Wartens fasste ich wieder Mut und drückte sie bis zum Anschlag herunter, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Erst jetzt fiel mir das Schlüsselloch direkt unter der Klinke auf und mir wurde klar, dass sie das Arbeitszimmer abgeschlossen hatten. Es ärgerte mich selbst, dass ich nicht vorher auf den Gedanken gekommen war. Es machte Sinn, sie wollten schließlich auch nicht, dass jeder Bedienstete hier einfach hineinspazieren konnte, wie es ihm beliebte. Sie hatten Geheimnisse, die es zu wahren galt, und gingen deshalb auch nicht so ein leichtsinniges Risiko ein. Wie hatte es mir in all den Jahren nie auffallen können?
Die anfängliche Euphorie wich einer tiefen Enttäuschung, gepaart mit der Erleichterung, meinen Eltern doch nicht etwas Unrechtes getan zu haben. Die eiserne Entschlossenheit, mir endlich Klarheit zu verschaffen, war der Angst, erwischt zu werden, gewichen und der Tatendrang wich dem Wunsch, sich endlich wieder in den warmen, weichen Laken meines Bettes einzuwickeln und den Schlaf willkommen zu heißen. Mit einem Mal schien mir sämtliche Kraft entzogen zu werden und es kam mir fast unmöglich vor, den Flügel, in dem mein Zimmer lag, wieder zu erreichen. Für einen kleinen Moment vergaß ich alle Vorsicht und ließ mich auf den Boden sinken. Eine tiefe Melancholie hatte mich erfasst und am liebsten hätte ich der Trauer in meinem Herzen in Form von Tränen Freiheit verschafft, doch meine Augen blieben trocken. Eine Dame verschwendete ihre Tränen nicht, außer sie musste einen Mann zu ihren Gunsten manipulieren.

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Perfect Perfection
RomanceJahr 330 seit der Gründung Senecas: Die gesamte Welt ist bereits erforscht, allein das Reich Seneca ist seit der Krönung König Abilions noch immer von der Außenwelt abgeschnitten. Zwar entwickelt sich das Land weiter, doch die neuen Errungenschaften...
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