Der Morgen kam so schnell, dass es mir fast erschien, als hätte ich überhaupt nicht geruht. Die vorherige durchwachte Nacht lag mir immer noch in den Knochen. Glücklicherweise übermannte die Aufregung schnell die bleierne Müdigkeit, die auf mir lag, schlug mir aber gleichzeitig auf den Magen, sodass ich kaum einen Bissen herunterbekam von dem pochierten Ei, welches unberührt vor mir auf dem weißen Porzellanteller lag.
Mithilfe meiner Zofe wurde ich in ein starres Korsett gezurrt, welche den Umfang meiner bereits schon schmalen Taille noch mehr verringerte und meinen Busen vorteilhaft anhob. Das schlichte dunkelgrüne Kleid ließ nicht viel der Vorstellungskraft übrig, sondern beinhaltete ein großzügig ausgeschnittenes Dekolleté und ließ sogar einen Teil meiner Schultern und des Rückens frei. Die Ärmel weiteten sich, je mehr sie sich den Handgelenken näherten, was dafür sorgte, dass ich meine Arme immer anwinkeln musste damit der Stoff nicht am Boden schleifte und so vom Dreck beschmutzt wurde. Auch der Rock meines Kostüms war großzügig geschnitten, weshalb ich einen großen Unterrock darunter trug, damit der weiche, leicht schimmernde Stoff keine Falten schlug.
Aufmerksam beobachtete ich im Spiegel, wie die junge Zofe mein langes Haar mit goldenen Nadeln hinauf steckte, sodass zum Schluss nur noch einzelne gelockte Strähnen mein Gesicht umrahmten. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel und wir sahen einander an. Ihre grauen Augen trafen meine blauen und für einen Moment war kein Hass in ihrem Blick zu sehen. Sie war zwar nur wenige Jahre älter als ich, doch hatte bereits drei Kinder, um die sie sich kümmern musste, und erwartete nun erneut Nachwuchs. Ihr Bauch hatte sich bereits merklich gewölbt, auch wenn sie es mit weiter Kleidung zu vertuschen suchte. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, die von ihrer Erschöpfung zeugten. Jetzt, da ihr Gehalt erneut gesenkt worden war, würde sie noch mehr Probleme haben, sich die notwendige Nahrung leisten zu können. Ich bezweifelte, dass sie genug aß. Wie viele Mütter in dieser Situation verzichtete sie und nahm ihren eigenen Hunger in Kauf, nur damit ihre Kinder nicht hungern mussten.
Als sie ihre Arbeit beendet hatte, drückte ich ihr einige Münzen in die Hand und ließ sie dann ziehen. Ich erhielt selber nicht viel Monatsgeld zur Verfügung, doch das einzige, was ich mir davon leistete, waren Bücher. Deshalb machte es mir nichts aus, ihr etwas abzugeben. Im Gegenteil. Es beruhigte mein Gewissen ein wenig, schließlich wollte ich nicht, dass ihre unschuldigen Kinder unter der egoistischen Entscheidung meiner Eltern litten.
Ich sah ein letztes Mal meinem Spiegelbild entgegen, welches mir nur stumm entgegenblickte. Seufzend legte ich die goldenen Ohrringe an, in denen blutrote Rubine eingefasst waren, und dann schließlich auch die dazugehörende Kette, welche so lang war, dass der große tropfenförmige Stein in die Kuhle zwischen meinem Busen rutschte und so die Aufmerksamkeit auf mein großzügig ausgeschnittenes Dekolleté gelenkt wurde. Herausfordernd blitze er tiefrot im Licht der Sonne auf und trieb mir die Röte auf die Wangen.
Mit zitternden Fingern betätigte ich die Klingel und unser Kutscher trat in mein Zimmer ein, verbeugte sich respektvoll und nahm mein Gepäck mit. Stumm folgte ich ihm durch die Gänge, bis wir schließlich vor einer geschlossenen schwarzen Kutsche standen, an die bereits vier weiße Pferde eingespannt worden waren, welche ungeduldig ihre Mähne schüttelten und auf der Stelle traten. Ich trat einen Schritt vor, die Hand bereits erhoben, um sie auf ihr glänzendes Fell zu legen und sanft darüber zu streichen, besann mich dann aber wieder. Ich wusste, dass meine Mutter, auch wenn ich sie momentan nicht sehen konnte, mich aus dem Inneren des Hauses beobachtete. Ich ahnte, dass es sie ärgerte, dass sie mich dort nicht mehr unter ihrer ständigen Beobachtung haben würde. Es wunderte mich, dass sie nicht darauf bestand, mir meine Anstandsdame während dieser Zeit zur Seite zu stellen. Normalerweise setzte sie sich stets durch, doch anscheinend hatte man sie überzeugen können, dass dies nicht nötig sei.
Ein letztes Mal blickte ich auf unser riesiges Haus, welches jetzt so dunkel und düster wirkte, dass ich es kaum erwarten konnte, von hier fortzukommen. Die dunklen Zimmerfenster blickten wie schwarze Augen auf mich herab, als wollten sie mich zu sich ziehen und dann nie wieder frei lassen. Ich erkannte die dunkle Silhouette meiner Mutter am Fenster, als ich die Augen zusammenkniff und genauer hinsah, doch ich hob nicht die Hand zum Abschied.

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Perfect Perfection
RomanceJahr 330 seit der Gründung Senecas: Die gesamte Welt ist bereits erforscht, allein das Reich Seneca ist seit der Krönung König Abilions noch immer von der Außenwelt abgeschnitten. Zwar entwickelt sich das Land weiter, doch die neuen Errungenschaften...
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