1. Nichts ist wie es scheint

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Mit ihrer Lieblings Puppe im Arm saß sie vor der Veranda. Das sanfte, grüne Gras lag wie eine weiche Decke unter ihr und die wenigen Sonnenstrahlen, die es durch die dichten Baumkronen schafften, schimmerten wie graue Tintenflecken auf ihrer blassen Haut. Wenn immer der Wind durch die Blätter fuhr, wanderten ein Paar dieser Licht Flecken ihren Arm hinauf, während andere flink über den Rasen huschten.

Das Mädchen in mitten der Wiese hatte ungewöhnlich helle Lippen, die sich ab und an zu einem zarten Lächeln formten, während sie den Kopf Gedanken verloren zur Seite neigte. Ein Schmetterling hatte sich lautlos neben ihr nieder gelassen, doch sie hatte das stille Geschöpf gar nicht bemerkt. Zu sehr war das Kind damit beschäftigt immer wieder durch das Haar der Puppe zu kämmen, welches mit den Jahren rau und verfilzt geworden war. Ihres hingegen wirkte sanft, lag locker über ihre Schultern und glich dabei dem glänzenden Gefieder eines Raben.

Der lebhafte Atem des Frühlings brachte die warme Luft um sie herum in Bewegung. Grashalme wiegten sich leicht hin und her, kitzelten dabei ihre dürren Beine. Vereinzelte Blätter landeten neben dem Mädchen, nachdem sie wie Ballerinen durch die Luft Richtung Boden getanzt waren. Sie hatten ebenfalls einen lebhaften grünen Ton, genau wie der Rasen um das Kind herum, weshalb die Linien der Blätter schließlich mit der Wiese verschmolzen.

Als sie Schritte hörte, löste sie den zuvor noch so verträumten Blick von der alten Puppe in ihrem Armen. Ihre Kopfbewegung war nicht erschrocken, sondern glich eher der einer Prinzessin, die anmutig von ihrem Thron auf ihr Volk schaute. Voller Eleganz und Aufrichtigkeit. In einer begeisterten Geste wanderten ihre Mundwinkel nach oben, da sie in der näher kommenden Person ihren Bruder erkannte. Ihr Mund war nun einen kleinen Spalt geöffnet, sodass sich ihre schiefen Zähne zeigten, welche ihrem schmalen Gesicht allerdings nicht einen Funken Schönheit raubten. Mann konnte schon jetzt die wunderschöne Frau in ihr erkennen, die sie in einigen Jahren werden würde.

Mit schweren Schritten kam der Junge auf sie zu. Er hatte nicht die weichen, anmutigen Gesichtszüge seiner Mutter geerbt, sondern kam ganz nach seinem Vater, war grob und temperamentvoll. Das warme grün seiner Augen wurde von einem eisigen, blauen Schimmer in den Hintergrund gedrängt und seine schwarze, löchrige Hose, kombiniert mit einem matten, pechschwarzen T-Shirt ließen ihn weniger wie einen Prinzen und mehr wie einen Krieger erscheinen. Dennoch konnte man auf den ersten Blick erkennen das die Beiden Bruder und Schwester waren, den er hatte ebenfalls einen sehr schlanken Körper und die rabenschwarzen Haare seiner Mutter. Diese standen wild durcheinander gewirbelt von seinem Kopf ab und würden ihm vermutlich bis zum Kinn reichen, wenn man sie glatt kämmte.

Obwohl nur der leichte Wind einige Blätter durch die Luft trug, war ihr Bruder ungewöhnlich angespannt. Langsam und Stolz setzte er sich nieder, doch auch im sanften Gras blieben seine jugendlichen Muskeln weiterhin angespannt. Sein Rücken war gerade durchgestreckt, der Kinn gehoben und seine Hand legte sich sanft wie eine Feder auf das Haar seiner Schwester. Ohne ein Wort erwiderte er das Lächeln seiner noch so jungen, unbeschwerten Schwester. Sein Lächeln war voller Liebe und Vertrauen, gleichzeitig aber auch schmal und zurückhaltend. Es zeigte seine überraschend weißen und geraden Zähne hinter seinen hellen Lippen und erreichte seine strahlenden Augen.

Doch es lag noch immer etwas in der Luft, das ihm ein ungutes Gefühl einhauchte. Als er sich umschaute wanderte sein Blick über den dunklen Haarschopf seiner Schwester hinweg, dann über den der Puppe und anschließend quer über die Wiese, bis er Plötzlich am Waldrand verharrte. Mit einer Mischung aus Verwirrung und Überraschung musterte er den Anblick bis ins kleinste Detail. Seine Augen waren dabei zu schmalen Schlitzen zusammen gepresst und blasse Falten legten sich auf seine Stirn. Etwas stimmte nicht.

Die dunkelbraunen Stämme der Bäume wirkten verwischt, als würde er sich ein unscharfes Foto anschauen oder durch eine dünne Schicht Nebel hindurch sehen. Er blickte zurück zu dem alten und zugleich edlen Haus, vorbei an seiner jungen Schwester, die wieder begonnen hatte, ihrer Puppe die Haare zu kämmen. Auch die Stufen der Veranda waren verwischt und der unbekannte, milchige Schleier vor dem Haus wirkte noch dichter, als wäre dieser Anblick nur ein Gemälde das man über Jahre in der Sonne vergessen hatte.

Creatures #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt