Kapitel 10

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  Mystic Falls - Sommer 2012 - Gegenwart

  Der Boden unter mir knirschte, als ich über ihn hinweglief. Äste, die mir im Weg waren, schlug ich beiseite und beachtete dabei kaum, dass ich mir mit dieser Geste meine Handflächen aufschürfte.
Schweiß rann mir den Nacken hinab und ich wollte nicht wissen, wie ich in diesem Moment roch.
Der Himmel war wolkenlos und die Sonne schien seit heute Morgen ununterbrochen. Kein einziger Tropfen Regen war in Sicht, was das Wetter perfekt machen würde, wenn da nicht diese schwüle Luft wäre, die einem das Atmen ein wenig erschwerte.
Harry war ich noch nicht begegnet und ehrlich gesagt wollte ich unser künftiges Gespräch auch in weite Ferne rücken lassen.
Er würde mir eine Standpauke halten, definitiv, und es war auch nicht so, dass ich vor einer Konfrontation mit ihm davon laufen wollte - gut, vielleicht wollte ich das, aber der einzige Grund, weshalb ich nun hier auf der steinigen Straße war und nicht auf ihn in unserem Hotelzimmer wartete, war, dass er mich jedes verdammte Mal wie ein kleines Kind behandelte und das, obwohl ich eindeutig die Ältere von uns beiden war, was er aber immer wieder zu vergessen schien.
Ich würde auch lügen, wenn ich nicht zugab, dass ich ihm am liebsten das Herz herausreißen wollte, wenn er mich mit seinem strichähnlichen Mund und seinen streng zusammengezogenen Augenbrauen anschaute. Es war zum Kotzen und nur der Fakt, dass wir beide befreundet waren, hielt mich schließlich von dieser Tat ab.
Kurz blieb ich stehen, schnappte nach Luft und streckte mich. Das Laufen war für mich schon seit dem 18. Jahrhundert zu einer Art Therapie gegen Probleme geworden. Ja, man könnte meinen, dass ich regelrecht versuchte, vor ihnen zu fliehen, aber nie könnte mir jemand weismachen, dass er nicht irgendwann an einem Punkt in seinem Leben ankommt, an dem er genau dies am liebsten tun möchte.
Und ich würde gerade am liebsten sehr, sehr weit weglaufen.
Schnaufend setzte ich mich wieder in Bewegung. Meine Füße schmerzten, aber was waren diese Schmerzen schon gegen die, die man mir zufügen würde, wenn ich weiterhin hier in Mystic Falls verweilte.
Mir war klar, dass es für mich in gewisser Weise ein kleines Risiko war, dass ich hier so frei auf den Straßen herumjoggte, aber der Nervenkitzel des Risikos war es irgendwie wert.
Meine Hände fuhren hinauf zu meinen Haaren und zogen meinen Pferdeschwanz strammer, da ich sonst den Verdacht hegte, dass sich dieser bei der nächsten kleinen Bewegung in vereinzelte Strähnen auflösen würde.
Menschen kamen mir entgegen, grüßten mich freundlich und das, obwohl sie mich gar nicht kannten. Mystic Falls war keine große Stadt und hier schien wirklich jeder jeden zu kennen, aber es war dennoch komisch, dass hier fast jeder wusste, wer nur zu Gast war und wer hier wohnte.
In der Stadt, in der Harry und ich noch kurz zuvor waren, war so viel los gewesen, dass jeder auf sich selbst geachtet und keinen Gedanken an die Menschen verschwendet hatte, die einem begegnet waren.
Ich musste einen Weg finden, wie ich Harry dazu bringen konnte, von hier zu verschwinden. Er konnte mir nicht weismachen, dass es ihm hier gefiel. Er kannte niemanden und mal davon abgesehen, dass hier durch die ganzen übernatürlichen Wesen schon manchmal etwas passierte, war diese Kleinstadt einfach nur langweilig.
Wäre ich ein Urvampir würde ich ihn manipulieren. Daraus machte ich kein großes Geheimnis, aber da ich keiner war, würde das wohl nichts werden.
Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, dass ich ihm einfach das Genick brach, aber wenn er aufwachen würde, wäre er nur unnötig sauer und wenn es dann letztendlich zum Kampf kommen sollte - und das würde es - würde ich gewinnen. Ich würde ihn nicht umbringen, aber selbst ich hatte schon Dinge getan, auf die ich nicht gerade stolz war und in solchen Momenten sah man einfach nur rot - egal wer vor einem stand.
Meistens schob ich es dann auf mein Dasein als Vampir, aber zur Hölle, ich war in gewisser Weise selbst schuld.

Hektisch atmend schloss ich meine Augen und lehnte mich an eine Laterne, die mir den richtigen Halt gab, um überhaupt noch auf den Beinen zu bleiben.
Gewissermaßen war ich vollkommen ausgepowert und als normaler Mensch wäre ich wohl schon längst zusammengeklappt, aber der Vampir in mir streikte, wenn ich mich zur Ruhe legen wollte und hielt an dem letzten verbleibenden Stück Energie fest - egal wie klein und zerbrechlich dieses auch war.
Grübelnd presste ich meine Lippen aufeinander und zog meine Stirn in Falten. Mein Kopf war wie leer gefegt und keine einzige Idee wollte mir vor meinem inneren Augen aufblitzen.
Eine Idee, wie ich all meine Probleme lösen konnte. Eine Idee, wie ich diesen einen Urvampir loswerden konnte, den ich so sehr zu hassen schien, aber an den ich dennoch die letzten Jahrhunderte immer mal wieder gedacht hatte. Eine Idee, wie ich Harry dazu bringen konnte, mit mir von hier zu verschwinden und endlich alles hinter mir zu lassen, was mir meinen Schlaf in der Nacht raubte und mich wie so oft wach hielt, da die Stimmen in meinem Kopf nicht ihre Klappen halten konnten.
Ich brauchte eine Idee. Eine, wie ich alles zu meinen Gunsten lenken konnte.

Meine Schritte wurden langsamer und auch meine Atmung ging wieder gleichmäßig. Vereinzelte blonde Strähnen fielen mir ins Gesicht und egal, wie oft ich versuchte, sie wieder in meinen Pferschwanz zu klemmen, sie kamen immer wieder.
Gelangweilt kickte ich ein paar Steine mit meinen Füßen beiseite, tat so, als wären sie die Bälle und ich der Profi, der sie alle bewältigen konnte.
Ich war müde, wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Womöglich könnte ich mir ein neues Hobby zulegen oder mir einfach eine simple Beschäftigung für die nächsten Jahrhunderte suchen, die mich davon abhielt völlig durchzudrehen.
Ich würde vollkommen lügen, wenn ich sagte, dass ich mein Wesen liebte - dass ich es mochte, ein Vampir zu sein.
Vielleicht heulte ich auch einfach zu viel und badete zu oft in meinem Selbstmitleid, aber tausend Jahre zu leben, machte mich eher müde als lebendig.

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht, was für mich hieß, dass ich mir bald meinen verdienten Snack gönnen dürfte, den ich mir doch wirklich verdient hatte.
Es war noch immer ganz schön faszinierend, durch die Straßen Mystic Falls' zu laufen und zu sehen, was aus diesem kleinen Städtchen in all den Jahren meiner Abwesenheit geworden war.
Ich sehnte mich nach einer Dusche, aber bis zum Hotel waren es noch ein paar Straßen und der Fakt, dass ich keine Lust hatte, Harry zu begegnen, war immer noch vorhanden. Zumindest noch für ein, zwei Stunden.
Ein lautes Hupen erklang hinter mir und riss mich gewaltsam aus meiner Tagträumerei. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich verfluchte diesen alten Typen hinter dem Steuer, der mir doch tatsächlich den Mittelfinger entgegen streckte.
Ging man nicht eigentlich davon aus, dass alte Leute nicht schneller als Schildkröten durch die Gegend tuckerten? Diese Annahme war eindeutig falsch. Rennschildkröten passten da schon eher.
»Hey, äh, ich versuche seit gestern Abend dich zu erreichen. Wir müssen reden.« In der Annahme, gleich von dem nächsten Menschen umgerannt zu werden, drehte ich mich warnend um. Die Tatsache, dass hinter mir jedoch keiner war, überraschte mich nicht allzu sehr, denn das Mädchen, was ein paar Meter von mir entfernt an ihrem Fenster telefonierte, ließ mich erkennen, dass sich mein empfindliches Gehör eingeschaltet hatte.
Super, Telefongespräche konnte ich belauschen, aber Autos nahm ich immer erst in der letzten Sekunde wahr. Hatte ich ein Glück.
»Entschuldige, ich war beschäftigt«, erklang die eindeutig männliche Stimme aus dem Handy des Mädchens, welches ich mittlerweile als Elena entziffert hatte.
Schon komisch, dass ich ausgerechnet immer ihr begegnen musste.
Vorsichtig und darauf bedacht, ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen, schlich ich mich zu einem Baum, der näher am Fenster war, und suchte mir dort Deckung.
Nicht, dass sie dachte, ich würde sie stalken. Wenn, dann tat ich das ganz unabsichtlich.
»Wenn du sauer auf mich bist, solltest du es einfach gut sein lassen«, erwiderte sie und selbst vom weitem konnte man erkennen, dass sie das Ganze mehr störte, als sie es wohl je zugeben würde.
Meine Finger krallten sich in die Rinde des Baumes. Fast hätte ich gelacht, als eine Frau mittleren Alters die andere Straße überquerte und mich dabei forschend musterte, als wäre ich frisch aus der Klapse ausgebrochen.
Vielleicht war ich das ja sogar.
»Oh, schon passiert.« Da verstand wohl jemand genau, was Sarkasmus war. Denjenigen musste ich unbedingt kennenlernen, wenn die Zeit es mir erlaubte.
Ein Seufzen erklang, was wohl daran lag, dass ihr interessanter Gesprächspartner aufgelegt hatte und kurz darauf war Elena auch schon von der Bildfläche verschwunden.
Langsam ließ ich von dem Baum ab und trat ein paar Schritte zurück. Sie würde nicht erneut ans Fenster kommen, weshalb es für mich keinen weiteren Grund gab, hier zu bleiben.

»Behalten Sie den Rest.« Lächelnd drückte ich der älteren Dame hinter der Theke einen Schein in die Hand und nahm im Gegenzug den rosa Shake entgegen.
Die Gradzahlen waren noch um einiges gestiegen und da ich noch immer nicht unter die Dusche gesprungen war, gönnte ich mir wenigstens eine kleine Erfrischung, um die Stunden, in denen ich meinem besten Freund noch versuchte, aus dem Weg zu gehen, irgendwie zu überbrücken.
Mittlerweile trauten sich auch wieder mehr Menschen auf die Straßen und die Stadt, die heute Morgen noch so leer gewesen war, war wieder so belebt, als wäre hier ein Jahrmarkt und jeder hatte Spaß.
Während ich versuchte, der Menschenmasse zu entfliehen, dachte ich darüber nach, was ich getan hätte, wenn Kol heute Morgen zu mir hinauf geschaut hätte. Wenn er und nicht sein älterer Bruder mich überrascht hätte, als ich die Vorhänge beiseite geschoben hatte und ihn vollkommen ruhig und allein unten hatte stehen sehen.
Nur mit Mühe konnte ich meine Gedanken von ihm wegdrängen und mich auf etwas anderes konzentrieren.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich wieder die Straße entlang ging, in der wohl meine Supermarktbekanntschaft wohnte und auch jetzt war ich noch der Meinung, dass ich sie nicht stalkte.
Ohne auch nur einen Blick auf ihr Haus zu werfen, ging ich an diesem vorbei und schlürfte das letzte bisschen Eis aus meinem Shake heraus.
Je weiter ich ging, desto weniger Häuser standen hier noch und schließlich war irgendwann kein einziges mehr vorhanden. Stattdessen waren hier nun Bäume. Rechts und links.
Irgendwie wirkte das ganze ein wenig bedrückend, aber womöglich würden selbst diese irgendwann verschwinden und anstelle dessen würden dann Häuser diese Straße schmücken. Kleine, weiße Familienhäuser mit einem schönen Garten.
Kinder würden Fußball spielen und mit Kreide auf die Pflastersteine malen. Diese Gegend würde so um einiges fröhlicher aussehen.
Meine Augen erblickten ein Gebäude, welches im Gegenzug zu den anderen, die ich bis jetzt hier erblickt hatte, recht alt aussah.
Von der Neugierde gepackt, marschierte ich langsam auf genanntes Haus zu, um es mir von nahem anzuschauen.
Von weitem hatte es irgendwie größer und furchteinflößender gewirkt, aber jetzt wirkte es einfach wie ein Haus, in dem sehr wahrscheinlich ein alter, reicher Mann wohnte, der sich nicht mehr vor die Tür traute und schon bald elendig alleine sterben würde.
Vorsichtig strich ich über das braune Gemäuer und versuchte, etwas durch ein Fenster zu erkennen, aber viel gab es da nicht unbedingt zu sehen.
Auch von drinnen sah es recht alt und langweilig aus. Der Verdacht mit dem alten Mann schien immer mehr der Wahrheit zu entsprechen.
Eine Bewegung links ließ mich innehalten. Ein braunhaariges Mädchen stürmte auf die alte Holztür zu und bei allem, was mir lieb war, es war Elena.
Ich wusste echt nicht, was ich jetzt davon halten sollte, aber langsam sollte wohl eher ich das Gefühl bekommen, dass ich von ihr gestalkt wurde.
Die Türe wurde geöffnet, weshalb ich mich reflexartig hinter einem Baum versteckte und versuchte, einen Blick auf denjenigen zu erhaschen, der die Tür geöffnet hatte. Überhaupt interessierte es mich, was Elena hier wollte. Hatte sie womöglich eine Affäre mit dem alten Mann, der hier zu leben schien?
Vielleicht war sie ja eine geldgeile Schlampe, die mit älteren Männern schlief? Wobei, so sah sie nicht unbedingt aus.
Seufzend schüttelte ich meinen Kopf und hoffte, dass ich nicht vergessen würde zu atmen, denn eine falsche Bewegung meinerseits und ich würde auffliegen, wobei dann wohl wirklich ich der Stalker wäre und nicht sie.
Ich drängte meinen Rücken näher an die Mauer hinter mir, lehnte meinen Kopf jedoch etwas schief, um wenigstens sehen zu können, wenn jemand gehen oder kommen sollte.
Tatsächlich ging eine Sekunde darauf ein Blondschopf den kleinen Weg zur Straße entlang und wie so oft in letzter Zeit bildete sich ein großes, rotes Fragezeichen über meinem Kopf, welches nicht so schnell wieder verschwinden würde.
Was zur Hölle machte Bekah hier? Überhaupt konnte ich keinen Sinn in dieser Situation sehen und erst recht nicht, weshalb Elena hier war. Dass die beiden sich nicht leiden konnten, war mir schon damals im Grill klar geworden.
Nachdem auch ihr Kopf gänzlich verschwand, schlich ich mich aus meinem Versteck und ging langsam näher in Richtung Tür.
Ich musste wissen, was hier vor sich ging und das Risiko, als Stalker betitelt zu werden, müsste ich eben dafür in Kauf nehmen. Ich hatte mir schon schlimmeres an den Kopf werfen lassen.
Gedämpfte Stimmen drangen durch die Tür, aber ich konnte nicht alles verstehen. Das Wort „Urvampir" war jedoch nicht zu überhören und schon bei der Erwähnung ging es mir durch Mark und Bein.
Einen Satz hatte ich jedoch ganz klar und deutlich verstanden und nun war ich mir auch zu hundert Prozent sicher, dass hier kein alter Mann wohnte.
»Weißt du, er hat recht. Klaus muss sterben.«
Stille.
»So, wie alle anderen auch.«  

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 01, 2016 ⏰

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Terrible Love {Kol Mikaelson} (ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt