Als ich schon eine Weile so am Rand der Landstraße entlang gegangen war, wurde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen. Ein Auto hatte sich mir genähert und hupte neben mir. Ich blickte auf und erkannte das Auto meiner Mutter. Ich war völlig überrascht! Wer hatte ihr Bescheid gegeben und woher wusste sie, wo sie nach mir suchen sollte? Meine Mutter fuhr an den Straßenrand vor mir und hielt. Mein Erstaunen wich rasch dem Gefühl der Erleichterung. Ich würde jetzt bald Zuhause sein. Hastig stieg ich ein und setzte mich auf den Beifahrersitz.
Meine Mutter fuhr los. Zuerst schwiegen wir beide und dann unterbrach sie die bedrückende Stille. "Was ist passiert?" fragte sie besorgt. Ich schwieg. "Ist was mit Tobi?" "Ich habe Schluss gemacht!" sagte ich kurz angebunden und so gleichgültig wie nur möglich. "Und warum?" Wieder sagte ich nichts. Sie merkte nun meine Betroffenheit und ich brachte einfach kein Wort über meine Lippen. Ich konnte es ihr nicht sagen! So viele Jahre hatte ich geschwiegen, aus Angst, aus Scham... Was würde geschehen, wenn sie es wüsste? Wie würde sie darauf reagieren, wie würde sie mich sehen? Wenn sie es wüsste, würde es auch mein Vater erfahren. Wie wäre seine Reaktion? Wie würde es in meinem Leben weiter gehen, wenn mein Geheimnis nicht länger ein Geheimnis war? Tausende dieser Fragen und ähnlicher Gedanken fuhren in meinem Kopf Achterbahn.
Plötzlich hörte ich meine Mutter wie aus heiterem Himmel fragen: "Hat es was mit Opa zu tun?" Ich traute meinen Ohren nicht! Wie konnte das sein? Hatte sie schon etwas geahnt, etwas gewusst? Ich hatte nie, mit keiner Menschenseele darüber gesprochen! Wie kam sie auf diese eine, alles enttarnende, mich völlig entwaffnende Frage? Ich konnte nicht mehr. Es brach nur so aus mir heraus und die Tränen stürzten mein Gesicht herunter. Ich hatte solche Angst! Was geschah hier? Das durfte nicht sein! Keiner durfte etwas erfahren! Es sollte nicht raus kommen! Schließlich brachte ich meiner Mutter gegenüber, die immer noch Auto fuhr ein "Ja" heraus. Mehr sagte ich nicht. Wie benebelt saß ich im Auto und fühlte mich auf einmal so schwach.
Kaum waren wir Zuhause angekommen stürzte ich aus dem Auto, lief die Treppen hoch in mein Zimmer, ließ die Jalousien runter und verkroch mich unter meiner Bettdecke. Grausam schüttelte mich die wach gewordene Vergangenheit. Die Tränen wollten nicht aufhören in Strömen zu fließen, so als ob sie in den Jahren des Schweigens und des Verdrängens in mir gefangen gewesen waren und nun Freiheit erlangt hätten. Ich war wie ein bebender Vulkan, aus dem das Feuer, das so tief in seinem Inneren geschlummert hatte, heraus schoss, nur dass es bei mir der Schmerz war.
Ich hörte Schritte die Treppe hoch kommen. Meine Mutter stand in der Tür. Sie machte das Licht nicht an. Langsam kam sie näher und setzte sich dann auf die Bettkante. "Sarah" flüsterte sie mitfühlend und tief bewegt. "Was ist denn los? Du kannst mir alles erzählen!" Ich weinte noch mehr! Nein, ich konnte nicht! Wo sollte ich anfangen? Wie diese ungeheuerlichen Wörter, die ich so lange in mir eingesperrt hatte, über die Lippen bringen? "Ich kann nicht!" hörte ich mich schluchzen.
Es brauchte lange, bis ich mich dann doch soweit beruhigt hatte, dass ich ihr kurz und bündig mitteilen konnte, dass Opa mich jahrelang sexuell missbraucht hatte. Diese Nachricht machte sie sprachlos. . Fassungslos setzte sie sich auf den Schreibtischstuhl, der in meinem Zimmer in der Nähe meines Bettes stand. Dann sagte sie: „Komm her!" Sie zog meinen kraftlosen Körper auf ihren Schoß und dann weinte ich an ihrer Brust, wie ein kleines Kind. Wir weinten beide. Das tat so unendlich gut. Endlich war es gesagt, dieses schreckliche, dunkle, zerstörerische Geheimnis. Ich hatte es gerade jemandem anvertraut, der mich von Herzen liebte, das wusste ich nun einmal mehr, denn sie hielt mich, obwohl diese Nachricht sie selbst umgehauen und zu Boden geworfen hatte. In völliger Dunkelheit saßen wir beide so lange in meinem Zimmer und teilten den Schmerz.
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Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.
Ficción GeneralDie Geschichte handelt von der jungen Frau Sarah, die in ihrer Kindheit jahrelang von ihrem Großvater sexuell missbraucht wurde. Als Kind begreift sie zunächst gar nicht, was mit ihr geschieht. Doch nach und nach realisiert sie, dass das, was ihr Gr...