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Es fühlte sich mit einem Schlag alles so falsch an. Jeder Schritt, jeder Atemzug. Janas tot war ungeklärt. Ich wollte frei von den Gedanken sein. Einfach mal ausschalten. Doch solange ich keine Antwort hatte, konnte ich dies vergessen. Ich war gefangen. Freiheit, normal leben, all so etwas konnte ich nicht. Zuerst musste Gerechtigkeit herrschen.

Jemand hier hatte zwei Menschen auf dem Gewissen. Wie konnte man ein Leben beenden? Allein die Vorstellung eine Waffe auf eine Person zu richten, war der pure Horror. Eigentlich seltsam. Einmal abdrücken, und eine ganze Geschichte wäre ausgelöscht. Momente und Menschen werden irgendwann in Vergessenheit geraten.

Die Jungs und ein paar Mädels gingen wieder tanzen und feierten weiter. Nur noch Kathi und ich saßen in der Wiese.„Ich wusste es schon." Mein Blick fiel einfach auf den See. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht schauen. „Was meinst du?", fragte sie irritiert. „Margret hat mich ins Spa geschickt und da habe ich Jolie Armstrong gesehen. Die haben über eine Krankheit gesprochen, und das er jeden Tag in Krankenhaus geht, um sein Blut testen zu lassen. Jetzt wissen wir auch was er hat", erklärte ich. „Was ist eigentlich falsch mit uns?", fragte Kathi auf einmal. „Ich meine, warum können wir nicht wie zwei normale Mädchen in die Schule gehen und uns um unser Leben kümmern?"

Das war es was ich immer wollte. Ein Leben, heiraten, Kinder bekommen. Doch manchmal muss man hinter die Fassaden blicken um zu verstehen was eigentlich los war. Plötzlich schrie jemand auf. Ungefähr eine Minute später hörte man ein platschen. Sofort hörte die Musik auf und jeder stand still. „Was war das?", fragte mich Kathi. „Keine Ahnung, wahrscheinlich ist jemand betrunken ins Wasser gefallen...", sagte ich gleich gültig. Mein Kopf schmerzte unglaublich.

Doch die Leute fingen an zu tuscheln und ich konnte weinen wahrnehmen. Die Menge begann sich aufzulösen. Ich sprang auf und versuchte was zu sehen, den Schwindel drückte ich gekonnt zur Seite. Aber da mich alle anrempelten um zu dem Ausgang zukommen fiel ich wieder zu Boden. Zum Schluss war nur noch meine Klasse anwesend. Sie standen wie angewurzelt am See. Kathi packte mich am Arm und zog mich mit sich zum Wasser und den anderen. Dann konnte ich es sehen!

Anne lag mit dem Rücken nach oben auf dem Wasser und trieb vor sich hin. Sie war tot. Tränen bildeten sich in meinen Augen. Der rosa Stoff ihres Kleides schwamm wie ihre Haare um sie herum und ließ sie blas wirken. „Was sollen wir machen?", fragte Joe, seine Stimme war unter Schock. „Wir müssen sie daraus holen!", dchrie Ian fassungslos. Er weinte und konnte nicht auf einer Stelle stehen. „Wir sollten die Polizei anrufen!" Heulte Luise. „Ich mache das..." Im Gegensatz zu den anderen war meine Stimme zerbrechlich. Ich konnte nicht schreien.

Etwas in mir sagte dass dies kein Unfall war. Doch wie hätte er das machen können? Was war überhaupt passiert? „Warte, mir müssen überlegen was wir sagen!", sagte Leo auf einmal. „Wie wäre es mit der verdammten Wahrheit?!", knurrte Kathi sauer. „Was ist den passiert?", wollte ich wissen. Die gesammte Situation erschein so... unwirklich. Marie kam langsam näher. „Es ist alles meine Schuld! Wir haben gewettet ob sie sich traut vom Hügel zu springen. Und sie hat es gemacht...", schluchzte sie.

Luise nahm sie in dem Arm und drückte sie an sich. Kathi nahm erneut meinen Arm und zog mich etwas abseits von den anderen. „Das war kein Unfall", sagte sie mit durchdringlicher Stimme. Doch ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihre Leiche lag da einfach. Ein Leben war beendet. Ihre Eltern waren zuhause und wussten noch nicht mal dass ihre Tochter tot war. Aber Kathi hatte Recht. „Sie hat geschrien...", sagte ich wie in Trance. "Da war kein Energieschrei, sondern ein Angstschrei."

Ohne ein weiteres Wort zog sie mich durch den kleinen Wald den Hügel hoch. Wir sahen auf die anderen und ihre Leiche herab. Als ich kürzlich hier gewesen war um zu springen, fand ich den Ausblick wunderschön. Aber jetzt wollte ich dass die Nacht alles verschluckte. Doch die Sonne ging schon wieder auf. „Lucy!" Ich drehte mich mit dem Rücken zum See. Kathi hielt einen Zettel in der Hand. „Der lag hier..." Ihre Stimme zitterte extrem. Gerade als ich ihr das Papier aus der Hand genommen hatte, drehte sie sich um und übergab sich. Ich ahnte von wem der Brief war und begann widerwillig zu lesen...

Hallo,

Ich weiß nicht wie ich es sagen soll. Wenn ihr diesen Brief lesen werdet, bin ich schon tot. Ich konnte und wollte nicht mehr. Mein Leben war eine Katastrophe. Ich liebe meine Eltern und meine ganze Familie, und aus diesem Grund musste ich das tun. Ich wollte euch nicht mehr zur Last fallen.

Bitte vergebt mir... Eure Anne

Selbst ein Blinder hätte gemerkt, dass dies nicht Annes Schrift war. Er ließ es wieder wie ein Selbstmord aussehen. Zuerst Jana, dann Liam und jetzt Anne. Er ließ ihre Familien im Glauben das sich ihre Kinder umgebracht haben. Wer war im Stande so etwas zu tun? „Sie hat geschrien, aber nicht vor Freude auf den Sprung... Er hat sie runter geworfen. Er war hier. Oder ist noch hier." Langsam ging ich wieder Richtung Ende des Hügels. Die anderen hatten Anne inzwischen aus dem Wasser gezogen. Es könnte jeder von ihnen sein. Jeder. Es wäre so leicht jetzt zu springen und zu hoffen alles wäre aus. Einfach alles beenden.

Keine Sorgen. Keine Schmerzen. Es lag nicht daran, dass ich Alkohol in Blut hatte, aber ich lief immer näher an den Abgrund. Nüchtern konnte man gut springen. Aber ich hatte nicht mal auf festem Boden ganz die Kontrolle über meinen Körper. Der Wind wehte mir ein paar Strähnen ins Gesicht. „Lucy?!", hörte ich Kathi fassungslos hinter mir schreien. „Ich will nicht mehr. Ich wusste dass ich nicht frei bin, bevor ich keine Antwort habe. Aber wenn ich jetzt spring kann ich Jana selbst fragen. Dann bin ich frei." Einzelne Tränen kullerten über meine Wangen.

„Hilfe!! Sie will springen!", schrie Kathi. Ich konnte ihr nicht böse sein. Wäre sie an meiner Stelle würde ich auch versuchen sie zum Stehenbleiben zu drängen. Aber wäre sie in meiner Situation, würde sie verstehen dass ich nicht mehr konnte. Gerade als ich schon einem Fuß vom Boden hob, wurde ich plötzlich zurück gerissen. Meine Klasse schaute nach oben. Ich hörte schon Sirenen. Die Polizei zu rufen war eigentlich mein Job, aber dazu kam es ja nicht. Eine tiefe Stimme flüsterte mir ins Ohr: „Alles wird gut..." Ich wurde sachte in den Arm genommen und den Hügel quasi hinunter getragen. „Joe, bitte lass mich los," sagte ich. Doch er tat weder was ich ihm gesagt hatte noch gab er mir eine Antwort. Viele Streifenwagen waren da. Wir wurden aufgeteilt und ins Revier gebracht. Ich bekam es gar nicht richtig mit. Was wenn mein Vater recht hatte und ich hier weg musste? Ins Internat oder so. Ein Neuanfang. Doch ich musste mich an meine eigene Theorie klammern und erinnern. So lange ich keine Antwort habe, war ich nicht frei...

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