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Leya war jetzt schon seit einer ganzen Woche einfach so nicht mehr in der Schule. Sie hat mir gesagt, ich soll unbekümmerter leben, also habe ich die letzten drei Tage auch geschwänzt.
Meine Mutter hat einen Brief von der Schule bekommen. Weil ich ja unentschuldigt gefehlt habe. Sie war sehr wütend, hat mich angeschrien, aber ich habe zum ersten Mal zurückgeschrien. Zum ersten Mal habe ich überhaupt mit ihr gestritten, denn Mama war immer für mich da. Meine beste Freundin.
Meine einzige Freundin.

Aber jetzt habe ich ja Leya.
Leya, die mir Mut spendet.
Leya, die mir hilft, wenn es mir schlecht geht.
Leya, die mir gezeigt hat, wie das Leben ist.
Ich bin nach dem Streit mit meiner Mutter natürlich auch sofort zu Leya gegangen. Dorthin, wo sie immer ist. An der Brücke, wo sie die Beine baumeln lässt und Rauchringe in die Luft bläst.
Ich habe ihr von meiner Mutter erzählt und Leya hat mir einfach nur zugehört und währenddessen einfach weiter Rauchringe gemacht.
Dann, als ich fertig war, hat sie mich ganz lange angeschaut.
Ich hatte das Gefühl, Leya würde bis in meine Seele und in meinen Kopf hineinschauen.
Als würde sie wisse, was in mir vorgeht.
Als würde sie das besser wissen, als ich selbst.
Und dann hat sie mir eine Frage gestellt, die mich immernoch beschäftigt.
Eine Frage, über die ich mir nie Gedanken gemacht habe.
Bis jetzt.
Als Leya das aussprach, stellte sie damit mein Leben komplett auf den Kopf, aber trotzdem weiß ich, dass es gut war, dass sie mir diese Frage gestellt hat.

"Wo bist du glücklicher, Meryl? Bei deiner Mutter oder bei mir? Wo fühlst du dich wohler? Wo kannst du wirklich du selbst sein?"

Und ehe mein Gehirn wirklich begreifen konnte, was gemeint war, hatte mein Mund die Antwort schon gefunden.

"Bei dir."

Ich weiß nicht, wieso, aber in dem Moment kam mir das einfach am ehrlichsten vor.
Und dann hat Leya mir alles erklärt, wie es so ist in meiner Welt. Ich versuche aufzuschreiben, was sie gesagt hat, aber ich weiß es nicht mehr ganz genau, denn auch ich habe zu dem Zeitpunkt schon ein bisschen was getrunken und geraucht.
Zur Entspannung.

"Meryl. Eine Sache, die ganz wichtig ist, musst du verstehen. Ich weiß, dass du schon immer bei deiner Mutter lebst und sie sicher auch liebst, aber stell' dir bitte eine Frage: Warum lässt sie dich nicht trinken? Warum lässt sie dich nicht die Leute treffen, die du treffen willst? Warum verbietet sie dir, Spaß zu haben?
Ich kann es dir sagen.
Sie gönnt dir diesen Spaß nicht.
Sie gönnt es dir nicht, glücklich zu sein.
Die Welt ist voller Egoismus.
Jeder denkt nur an sich selbst, ohne es zu merken und versucht aber nach außen hin, der freundliche, hilfsbereite Mensch zu sein.
Tierschützer, Ehrenamtliche und ja, auch Mütter.
Sie alle verstecken ihren Egoismus hinter einer zuckersüßen Maske der Selbstlosigkeit.
Letztendlich wollen sie nur den Ruhm und die Worte hören "du bist so ein guter Mensch!"
Aber glaub mir, das ist keiner.
Und auch ich bin es nicht.
Aber ich zeige es der Welt.
Ich denke bewusst an mich.
Ich denke bewusst an uns beide.
Ich war schon immer die, die frisst, aber kannst du das auch sein?
Denn diese Menschen, die immer zeigen, wie hilfsbereit und toll sie sind, sie werden alle gefressen. Weil sie schwach sind und nur an sich denken und an ihre Zukunft, aber den Augenblick nicht auskosten. Irgendwann, wenn sie nicht damit rechnen passiert es dann. Weil sie immer an die Zukunft gedacht haben, überrumpelt sie irgenwann die Gegenwart. Dem entkommen sie nicht. Ich will nicht gefressen werden und passe deswegen auf, nutze den Moment und kann trotzdem aufmerksam sein."

Ich sitze immernoch hier auf der Brücke. Mein Tagebuch habe ich dabei und jetzt ist es vier Uhr nachts. Leya sitzt neben mir und raucht die letzte Zigarette.

Und ich habe Angst, dass sie danach geht.

Live Like LeyaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt