Aufbruch mit Hindernissen

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"Habt ihr auch wirklich nichts vergessen?", fragt Mama nach einmal. Ich gehe kurz meine Liste durch, die ich gestern geschrieben habe und nicke. "Alles da!" Papa hat mir erlaubt, dass ich seine Kamera mitnehme. Vielleicht findet sich in Frankfurt wirklich etwas, das wir für unseren Film verwenden können. Oder ich mache einfach nur Fotos von Frankfurt. Mal sehen, ob meine Speicherkarte voll wird. Timon und ich steigen ins Auto ein. "Viel Spaß", rufen Paule und Dina im Chor. Papa winkt und Bill sitzt einfach nur da und guckt traurig. Für den Hund ist es immer sehr schlimm, wenn jemand von uns nicht da ist. Mama startet das Auto und fährt aus der Garage. Auf der Straße ruft Timon plötzlich: "Achtung!". Mama bremst. "Was denn?", fragt sie Timon erschrocken. "Frau Weiß rückt aus", antwortet Timon. Aus der Einfahrt schräg gegenüber parkt rückwärts ein roter Kleinwagen aus. Er gehört Frau Weiß. Sie ist schon 87 Jahre alt, hört schwer und ist auch körperlich nicht mehr ganz fit. Seit ein paar Jahren fährt sie Auto. Ja, sie hat wirklich im Alter von 83 Jahren noch einmal angefangen Auto zu fahren, nachdem ihr Mann gestorben war. Manchmal fahren Leute in diesem Alter einen Rollator, aber die beiden Töchter von Frau Weiß haben ihr einen Kleinwagen gekauft. Seitdem kurvt sie damit durch die Gegend. In den Nachbarort zum Einkaufen oder auf den Friedhof, wo ihr Mann begraben liegt. Allerdings muss man sagen, dass ihre Fahrkünste sehr zu wünschen übrig lassen (ich weiß, ich fahre selber noch kein Auto, aber ich sehe schon, allein wie sie ausparkt, dass sie große Schwierigkeiten hat). Unserem Nachbarn hat sie voriges Jahr den Zaun eingefahren und der Rest der Nachbarschaft schwitzt Blut und Wasser, wenn die Frau im Winter auf glatten Straßen mit Sommerreifen (!) einkaufen fährt. Nun, na ja, wie soll man das beschreiben? Sie fährt nicht wirklich, eigentlich rollt das Auto nur in Zeitlupe aus der Einfahrt. Dann gibt Frau Weiß plötzlich Gas und das Auto hopst auf den Fußweg auf der anderen Seite wieder hoch. Kurz bleibt sie stehen und schaut sich verwundert um. Von vorne kommt ein Auto. Der Opel von Annas Großeltern. Da fährt Frau Weiß doch plötzlich los. Aber auf der linken Straßenseite. Mama klappt die Kinnlade runter. "Was macht die denn?", fragt sie fassungslos. "Die muss doch rechts fahren." Doch Frau Weiß fährt stur auf der linken Seite weiter. Immer weiter direkt auf den Opel zu. "Die Oma soll nach rechst fahren!", schimpft Mama. "Oder wenigstens bremsen." Annas Großvater macht eine Vollbremsung und kann dem Auto noch in letzter Sekunde ausweichen. Frau Weiß fährt ungerührt weiter und biegt ab. Weg ist sie. "Mensch, das wäre in die Hose gegangen", meint Timon. "Muss die auch links fahren?", fragt Mama. "Na, wenn Frau Weiß beschließt, dass vom Ortsschild bis an die nächste Kreuzung Linksverkehr ist", stelle ich fest. "Dann erzählt sie jetzt ihrem Friedrich sicherlich, dass hier doch tatsächlich Geisterfahrer unterwegs sind", vermutet Mama. "Ein Glück, dass Herr Waagemut gebremst hat." „Sonst hätte Frau Weiß ihn sicherlich mit ihrem 'roten Panzer' plattgewalzt", sage ich. Mama lacht. Sie schnappt nach Luft und kann nicht mehr aufhören zu lachen. Timon und ich müssen mitlachen. "Eigentlich ist es doch ganz lustig", meint Mama. "Zumindest so lange, wie nichts passiert." Sie setzt den Blinker und fährt los.

Kurze Zeit später sind wir in der Schule angekommen. „Habt ihr gesehen, wie die Frau falsch gefahren ist?", fragt mich Sofia. „Klar", antworte ich. „Die Frau ist eine Gefahr für die Menschheit", sagt Annas Großvater. „Wenn die ausrückt, muss im Umkreis von 3km alles evakuiert werden." Er hievt den Koffer aus dem Auto. „Viel Spaß!", ruft er, bevor er seine Enkelin noch einmal umarmt wieder fährt. Heute geht es endlich los. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit schon wieder vergangen ist. Tante Susanne ist bereits ins Gästezimmer eingezogen und, wie erwartet, richten wir ihr eine kleine Wohnung unter dem Dach ein. Genug Platz ist ja. Aber wir haben immer noch nichts für unseren Film. Wie gesagt, Frankfurt könnte uns da weiter helfen, aber wenn nicht? „Sind alle da?", ruft Herr Fegebein über den Schulhof. „Wer nicht da ist, soll sich melden", ergänzt Frau Stern, die, wie auch in der 5. Klasse, wieder mitfährt. Herr Fegebein geht mit einer Liste rum und hakt ab, wer schon da ist. „Cäcilie, Anja, Theresa und Noamy fehlen noch", stellt er fest. „Ui, stimmt", stimmt Sofia zu. „Die fehlen ja noch. Sicher, dass die nicht höchstpersönlich nach Frankfurt gefahren werden?" „Könnte möglich sein", stimmt Carlotta zu. „Aber wollen wir mal nicht so sein. 10 Minuten können wir noch auf unsere Hoheiten warten.""Simons und Timons Tante fehlt noch." "Bin schon da", ruft jemand. Tante Suanne kommt um die Ecke gerannt und zieht einen großen Koffer hinter sich her. "Ich musste noch mal schnell ins Büro, ein wichtiges Dokument abliefern. Ich kann doch mein Auto auf dem Lehrerparkplatz stehen lassen, oder, Herr Fegebein?" Der nickt. "Warten wir noch auf jemanden?", fragt Susanne. Frau Stern nickt. "Vier Mädchen fehlen noch", sagt sie. Doch die zehn Minuten vergehen und von den eben benannten Personen hat sich noch keine blickenlassen. Es vergehen zwanzig Minuten. „Anton, vielleicht sollten wir losgehen", meint Frau Stern genervt. „Unser Zug, mit dem wir eigentlich fahren wollten, ist schon weg und ich habe wenig Lust, dann den ICE nach Frankfurt zu verpassen. Der nächste fährt dann erst gegen Nachmittag." „Dann sollten wir wirklich losgehen", stimmt Herr Fegebein zu. Der Bahnhof liegt nicht weit weg von unserer Schule. Trotzdem ist es irgendwie komisch, wenn man einen großen Koffer hinter sich herzieht und so durch die Stadt laufen muss. Einige alte Leute bleiben stehen. „Geht es auf Klassenfahrt?", fragt ein Mann. Sofia nickt. „Wohin fahrt ihr denn?", möchte der Mann wissen. „Nach Frankfurt am Main", antworte ich. „Dann wünsche ich euch viel Spaß", meint der Mann und geht weiter. „Das gibt's jetzt nicht!", sagt Herr Fegebein fassungslos. „Was macht ihr denn schon hier?", schreit Frau Stern quer über den Bahnsteig. Anja, Cäcilie, Theresa und Nojono gucken sich irritiert an. „Wir hatten ausgemacht, dass wir uns alle in der Schule treffen", schreit Frau Stern in der gleichen Lautstärke weiter. Ihr ist es anscheinend egal, dass der ganze Bahnhof mithört. „Was ist denn so schlimm daran?", fragt Anja. „Wir hatten nur keine Lust, unsere schweren Koffer hierher zu ziehen. Da hat uns der Chauffeur meiner Eltern hergefahren." „Wenn ihr die Koffer nicht tragen könnt, warum nehmt ihr dann so viel mit?", schnauzt Frau Stern die vieren an. „Wegen euch hätten wir den ICE verpasst." Cäcilie rollt mit den Augen. „Meine Damen und Herren auf Gleis 2a, in wenigen Minuten fährt der Express-Zug nach Erfurt ein. Wir möchten sie darauf hinweisen, dass es wegen Bauarbeiten an der Trasse zu Verspätungen kommen kann. Bitte planen sie bis zu 45 Minuten ein. Vielen Dank für Ihr Verständnis", sagt eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher über uns. „Na toll", meint Anna. Sie steht am Fahrplan. „Wir brauchen 'ne gute halbe Stunde nach Erfurt, plus die 45 Minuten wären das anderthalb Stunden", rechnet sie. „Dann wäre der ICE weg." „Was sagst du?", fragt Frau Stern. „Der ICE wäre weg?" „Wenn wir den Zug vor einer viertel Stunde genommen hätten", sagt Anna, „mit dem wir ursprünglich fahren wollten.Wären wir gegen 8:50Uhr in Erfurt gewesen. Der ICE wäre, laut diesem Fahrplan hier, 9:17Uhr abgefahren, was wir bequem geschafft hätte." „Selbst wenn wir mit dem Zug fahren, also jetzt", sage ich, „bräuchten wir keinen Stress machen. Aber mit bis zu 45 Minuten Verspätung können wir uns das abschminken." „Klasse", meint Frau Stern trocken, „steht auch zufällig da, wann in Erfurt der nächste ICE abfährt?", fragt Herr Fegebein. Anja überfliegt den Fahrplan. „Anschluss-ICE nach Frankfurt am Main gegen 13:31", murmelt sie vor sich hin. „Da haben wir dann gute 5 Stunden Zeit, um einkaufen zu gehen", freut sich Theresa. „Mal abgesehen davon, dass es nur 4 Stunden sind", erwidert Timon. „Trotzdem", sagt Theresa. „Einkaufen können wir doch. Es soll diese Woche diese schicken Jeans im Angebot geben." Sie hält uns ein Prospekt unter die Nase. Anja nickt bestätigend. „Wir brauchen eh noch ein schickes Outfit für die Diskos in Frankfurt", ergänzt sie und holt ein Blatt Papier aus ihrer kleinen, rosa Handtasche. „Ich habe mir hier mal die bekanntesten Diskos raus geschrieben. So teuer sind die gar nicht. Und mit der Erlaubnis unserer Eltern dürfen wir da schon rein." „Outfits? Für die Disko?", fragt Frau Stern allarmiert. „Hallo!? Geht's noch?" „Warum denn nicht, die lassen uns doch eh rein, wenn wir sagen, dass wir 16 sind", erwidert Cäcilie. „Klar, weil ihr auch voll wie 16 ausseht", sage ich. „Wie denn dann?", faucht Nojono. „Wie 60", meint Nico. Nojono kichert. „Witzig", säuselt sie. „Ich lache später drüber." „Jetzt hört mir mal zu", sagt Herr Fegebein in einem sachlichen Ton. „Wir, also Frau Stern und ich, sind eure Klassenlehrer. Wir fahren mit euch auf Klassenfahrt in eine Europastadt, wo man sich ganz schnell und ganz doll verlaufen kann." Er hört sich irgendwie an, wie jemand, der versucht, einem Dreijährigen zu erklären, warum man sich in Frankfurt verlaufen kann. So im „Dutzi-dutzi-du"-Ton. „Wir wollen an den sieben Tagen, die wir dort sind, ganz viele Sehenswürdigkeiten besuchen. Und da bleibt keine Zeit für Diskos. Außerdem sind wir dafür verantwortlich, dass ihr spätestens um zehn schlaft. Auch wenn ihr euch bei dem netten Kontrolleur einschleimt, eure Ausweiße verraten dem Onkel, dass ihr erst 12 seid." „Habt ihr das verstanden?", fragt Frau Stern wütend. „Ihr habt in der Jugendherberge zu bleiben und diese nur zu verlassen, wenn wir es erlauben." „Wir sind nicht in einem Hotel?", fragt Anja fassungslos. „Warum denn das nicht?" „Weil das zu teuer gewesen wäre", antwortete Herr Fegebein und klingt jetzt wieder wie der Lehrer, den wir kennen. Der „Dutzi-dutzi-du"-Ton wurde mir langsam unheimlich. „Meine Eltern hätten das bezahlen können", sagt Anja trocken. „Für die ganze Klasse." Sie guckt zu uns herüber und lächelt hämisch. „Na gut, für einen Teil der Klasse", korrigiert sie sich. „Aber mal ehrlich: so viel, wie die Klassenfahrt gekostet hat, krieg' ich im Monat als Taschengeld." Ich frage mich in den letzten Tagen immer öfter, wo die ihr Geld herhaben. Voriges Jahr hat sie doch sonst nicht so damit angegeben. „Trotzdem sind wir in der Jugendherberge und damit basta!", sagt Frau Stern. Mit anderen Worten. Schluss-aus-Ende-der-Diskussion. „Sehr geehrte Fahrgäste, auf Gleis 1a fährt der Express-Zug nach Erfurt ein. Geplante Ankunftszeit ist 10:08", kommt es aus dem Lautsprecher. Tante Susanne hat sich bis jetzt nicht geäußert. Sie steht nur etwas abseits und muss sich beherrschen, dass sie nicht laut los lacht. Wo bin ich denn nur gelandet?, scheint sie sich zu fragen. Das Quietschen einer Bremse verrät den herannahenden Zug. Irgendwie bin ich jetzt aufgeregt. Es geht los! Wir schnappen unsere Taschen und Koffer und steigen ein. Anja und ihre Freundinnen haben Mühe, mit ihren Koffern (so groß wie Frau Weiß' Auto) durch die Tür zu passen. „Haben Eure Hoheit auch nichts an Eurer wertvollen Robe vergessen?", fragt Sofia. „Halt' die Klappe", blafft Cäcilie und geht vorbei.

Simon und das Großstadtabenteuer (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt