Das Wunder von Gnomeria

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Das Königreich Gnomeria war in Aufruhr. Vertreter aller Religionen rannten wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend und verkündeten, je nach ihrer Lehre, Weltuntergang, Öffnung des Paradieses, Reinkarnation, sexuelle Befreiung, Wiedereinführung der Zwangsaskese und des Zölibats, ...

Aber was war eigentlich geschehen? Das konnte niemand genau sagen, denn alle waren panisch geflüchtet, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Das Einzige, was als gesichert galt, war der Einschlag eines riesigen Obelisken, der sich viele UFFs tief in die Erde gebohrt hatte.

Ein UFF, das war die Gnomerische Einheit für die Tiefe von Erdlöchern und entsprach dreizehn uffs, die ihrerseits jeweils sieben Bauchtiefs gleich standen. Das Graben und Schaufeln in der Erde war für die Gnomerianer lebenswichtig. Die Wirtschaft des Landes beruhte auf der Kultivierung der einzigen Nutzpflanze, dem Häcksenbesen.

Diese lieferte alles, was zum Überleben benötigt wurde. Aus den festen Stämmen bauten die Zimmerleute Balkenwerk für die Häuser und Brücken, Tischler stellten Möbel daraus her. Die biegsamen Äste und Zweige hießen Reiser und wurden zu Lagerbehältern und Rädern verarbeitet. Aus den fasrigen Blättern gewann man das Material für Seile, Stricke, Zwirn. Doch das war nicht alles, denn die Beeren und die saftigen Wurzeln ernährten, vielfältig zubereitet, das ganze Land.

Aber nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesamte Staatswesen Gnomerias war durch die Nationalpflanze geprägt. Die Regierung lag in den Händen der Königin, welche in der Landessprache Hekate genannt wurde. Diese wurde für einen Zeitraum von 2 Jahren vom Volke aus den Reihen der erfolgreichsten Häcksen gewählt, der Feldarbeiterinnen.

Doch nun herrschte Chaos. Hekate Zwilli saß auf ihrem Denkestuhl, einem Kunstwerk, das der berühmte Reiserflechter Knorx geschaffen hatte, und seufzte.
„Was machen wir nur?", fragte sie die Hekatomben, ihre Beraterinnen.
„Wir müssen Sicherheit schaffen", meinte Gunilla, die für ihre Ungeduld bekannt war. „Deshalb schlage ich vor, eine Expedition zum Obelisken zu entsenden."

„Viel zu gefährlich!", rief Wafzi, die Älteste. Zwilli richtete sich auf und schaute in die Runde. Streit war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
„Ich stimme Gunilla zu. Es ist besser, eine kleine Erkundergruppe in Gefahr zu bringen, als womöglich das ganze Land dem Untergang zu weihen, weil wir nicht wissen, was passiert."

„Aber ...", setzte Wafzi an. Zwilli schnitt ihr das Wort ab:
„Wir werden über Gunillas Vorschlag abstimmen. Einfache Mehrheit."

Eine Minute später war alles entschieden. Man würde drei Erkunder aussenden, die feststellen mussten, was in dem verlassenen Landesteil geschah.

Es verging eine Zeit gespannter Erwartung, bevor die drei Gelehrten von ihrer Expedition zurück kehrten. Die Nachrichten, die sie brachten, klangen gruselig.

„Der Obelisk", berichtete Zwartholt, der Erdologe, „ist verschwunden. Er hat ein riesiges Loch hinterlassen. Wir konnten die genaue Tiefe nicht herausfinden, weil unsere Knotenseile nur ...", Zwartholt stockte, „9191 UFFs lang waren. Aber wir sind der Überzeugung, dass das Loch bis hinab zur Heule reicht."

Die Heule, das war der kugelförmige Hohlraum, der, so glaubten die Gnomerianer, sich im Mittelpunkt der Welt befand. Nach alten Überlieferungen wurden dort die Bösewichter hin verbannt, wenn sie starben.
Im heiligen Buch „Fon dem Baue där Wält" konnte man lesen:„So isset die Wält innerlich ein gros Loch, allwo di Tagedieb und Beutelschneider, di Fälschler und andre Bösewicht werden verbracht hineyn. In där Tiefe hausen die Täuvel, grimmige Wesen, so die Gefangenen gar grässlich drangsaliren, auf daß sie laute heulen. Darum denn heißet der Ort 'Die Heule' ..."

Alle hielten den Atem an. 9191 UFFs! Das war die magische Zahl. Der Kalender der Alten endete genau nach 9191 Jahren. Jede Erwähnung dieses Wertes musste genau dokumentiert werden. Im Hintergrund des Denkesaals, in dem die Besprechung statt fand, hörte man den Schreibgriffel der Schriftführerin über das Besenplatt (ein Schreibmaterial, das aus getocknetem Pflanzenbrei gewonnen wurde, den man hauchdünn auswalzte) kratzen.

Zwartholt setzte seinen Bericht fort:
„Wir hatten gerade die letzten Messungen beendet und brachen zur Heimreise auf, als aus dem Himmel ein riesengroßer Häcksenbesen herab fuhr und sich in den Abgrund bohrte. Die Erde erzitterte und wir waren vor Schreck wie gelähmt. Dieser Strunk ist so gewaltig, dass er nicht nur den Heulen-Schlund verschlossen hat, sondern er ragt auch bis in die höchsten Himmels-Sphären auf.
Folgt mir bitte! Man muss ihn vom Balkon aus sehen können."

Alle erhoben sich und eilten aufgeregt hinaus, auf die Terrasse, die sich an den Denkesaal anschloss. Und wirklich, in dunstiger Ferne erkannte man deutlich ein gigantisches Gewächs, dessen Krone in den Wolken verschwand.

Zwilli atmete auf.
"Das ist sicher ein Zeichen der Götter, die uns für unseren Fleiß belohnen.", verkündete sie.
Großer Jubel erhob sich.

****

Griseldis legte das Pflanzholz zur Seite. Das winzige Pflänzchen wirkte beinahe verloren, in dem großen Topf.
„Ich würde an deiner Stelle auch das Moos entfernen", riet ihr die Mutter, die gerade ins Zimmer getreten war. "Das hat sich ziemlich ausgebreitet."
„Ach, der Topf ist doch so groß. Und es sieht frisch und weich aus", entgegenete das Mädchen und strich sanft über die feinen Blättchen ihrer

Sonnenblume.

Aufschreiber


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