Fühlen für später

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"Au!"

Mit weit aufgerissenen Augen lag Gert in seinem Bett und rieb sich die brennende Wange. Er schaute sich um. Leeres Zimmer, kein Mensch, alles wie immer. Ächzend erhob er sich von seiner Schlafstatt und wankte ins Bad. Irgendwie fühlte sich alles seltsam an. Die plastene Seifendose vermittelte metallische Kühle, die Klobrille schien mit Stoff bezogen zu sein...
Im Spiegelbild zeichneten sich fünf rote Finger auf seiner Wange ab! Er konnte sich nicht erinnern, woher die stammten.

Es war beängstigend. Alle Gegenstände schienen plötzlich aus anderem Material zu bestehen. Lederner Brotlaib, Kaffee, der sich ätherisch, wie Cognac, anfühlte.

Er griff nach dem lack-hölzernen Mobilteil seines Telefons, wählte die Nummer seines Hausarztes und vereinbarte einen Termin für den Vormittag. Anschließend rief er bei Kathrin an, die ihm seit Jahren bester Kumpel gewesen war. Zumindest hatte er nie einen Gedanken  daran verschwendet, dass sie mehr wollen könnte. Als sie abnahm, bat er sie, ihn zur Praxis zu begleiten.

Eine halbe Stunde später erwartete ihn die junge Frau vor dem Haus. Sie war zu Fuß, weil man ihr vor zwei Tagen das Auto gestohlen hatte. Gert war immer noch verwirrt. Es war, als sei sein Fühlen durcheinander geraten. Sie überging seine Gesichtsdekoration schweigend. Er würde ihr sicher davon erzählen, wenn er wollte. Und das tat er, auf dem Weg zur Haltestelle.

In der Straßenbahn waren die meisten Plätze besetzt. Als das Gefährt anfuhr, ging ein leichter Ruck durch den Waggon. Gert, in die Analyse seiner Tastwahrnehmung versunken, war darauf nicht gefasst, strauchelte und griff zu.
Seine Hand landete genau auf Kathrins Brust. Die holte reflexartig aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
Halt suchend griff er nach der Lehne des einzigen freien Sitzes und ließ sich auf die Stoff überzogene Sitzfläche plumpsen, total verwirrt, denn erstens spürte keinen Schmerz und zweitens schien Kathrin in der Oberweite betoniert zu sein.

Kathrin war nicht minder erschrocken. "Tut mir leid.", sagte sie immer wieder. An der nächsten Station stiegen sie aus und schlenderten zu einem kleinen Bistro, in dem sich Gert auf einem Leder bezogenen Stuhl niederließ, der sich beim Heranziehen wie Haut anfühlte und - auf den Schreck - einen Cognac bestellte. Noch immer tanzten seine Wahrnehmungen einen wilden Reigen.

Anschließend spazierten sie gemächlich zur Praxis, wo glücklicherweise wenig Betrieb  herrschte. Auf seine ausdrückliche Bitte hin begleitete Kathrin ihn auch ins Behandlungszimmer.
Doktor Freiermann hörte geduldig zu und erhob sich anschließend, um aus seinem Aktenschrank ein dickes Buch zu greifen. In diesem blätterte er eine Weile schweigend und schaute schließlich auf.

"Mir scheint, wir haben es hier mit einer unglaublich seltenen Störung zu tun. Ich konnte hier nur einen einzigen Fall finden. Man nennt diese Erscheinung 'taktile Präzeption'.
Das bedeutet, dass ihr Tastsinn Ihnen zukünftige Eindrücke signalisiert. Bei dem erwähnten Fall verschwand die Störung der Perzeption von selbst wieder, wobei der Vorgang einer Art Einschwingen nicht unähnlich war. Es gibt - schon wegen der Seltenheit und des damit verbundenen Mangels an Forschungsergebnissen ..."

Er unterbrach sich und schaute Gert an, dessen Kopf sich dermaßen gerötet hatte, dass man den Handabdruck kaum wahrnahm. Der Patient schwitzte und brachte gerade noch ein gestammeltes "... Toilette ..." heraus. Dann sprang er auf und eilte - seltsam staksig - aus dem Raum...

Der Arzt wandte sich nun an die - ebenfalls ziemlich perplexe - Kathrin und besprach mit ihr seine Einweisung in das örtliche Krankenhaus, zur Beobachtung.

Die Heimkehr verlief ohne größere Zwischenfälle. In Gerts Wohnung angekommen, verschwand dieser unter der Dusche. Als er aus der Kabine trat, stand Kathrin, fast ein wenig verschämt, im Evaskostüm vor ihm.

Sie nahm seine Hand ...
"Jetzt darfst Du das.", lächelte sie.
Nichts tat sich. Kathrin war verunsichert.

Gert fasste sich nachdenklich an die Wange, dann flackerte Erkenntnis in seinem Blick auf. "Shit!", presste er zwischen den Zähnen hervor.


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