Besuche machen immer Freude: Wenn nicht beim Kommen, dann beim Gehen

20 3 0
                                    


... November vor zwei Jahren...

Ich betrat den Besuchsraum und sah mich um. Überall waren andere Schüler – uns wurde verboten uns Patienten zu nennen, das hatte anscheinend einen negativen Einfluss auf unsere Therapie – mit ihren Familien. Ich lief an ihnen vorbei und setzte mich an einen der letzten freien Tische.

„Aber ich glaube Sie haben sich wirklich geirrt. Mich will niemand besuchen", meinte ich zu dem Kerl in weißer Pflegerkleidung, der mich hier rein gezwungen hatte. Ich kannte weder seinen Namen, noch wollte ich ihn kennen. Vorher hatte sich immer eine Frau um mich und den Rest in meinem Bereich gekümmert. Doch leider war sie vor wenigen Tagen gegangen. Die Erwachsenen meinten sie hätte gekündigt, doch wir alle wussten, dass sie selbst in eine Psychiatrie gekommen war.

„Als ob dir das leid tut, du hast schließlich geholfen sie dorthin zu befördern", meinte meine innere Stimme kühl und ohne jede Reue. „Naja, vielleicht stimmt es wirklich, dass man, wenn man von Verrückten umgeben ist, selbst früher oder später verrückt wird", antwortete ich ihr unschuldig im Stillen.

„Ich bin mir ganz sicher", riss der Neue mich aus meinen Gedanken, „Sie haben vor einer halben Stunde angerufen, dass sie vorbeikommen." Es hatte sich wohl rumgesprochen, dass man mit mir nicht diskutieren sollte, denn er entfernte sich.

Selbst wenn er es versucht hätte mich zu überzeugen, würde es genau das bleiben – ein Versuch. Denn ich konnte ihm einfach nicht glauben. Der letzte Besuch meiner Eltern war alles andere als gut ausgegangen. Das war jetzt anderthalb Monate her. Vielleicht hatten sie mir ja wieder „verziehen". Doch eigentlich gab es nichts was mir leid tun müsste.

Der gespielte Ausraster war genau das gewesen was sie von mir wollten. Meine Eltern und die Ärzte hatten gemeint ich solle meine Gefühle rauslassen. Der ständige Kontrollzwang sein ein Grund für die Krankheit, die sie mir einzureden versuchten. Also hatte ich – scheinbar – getan was sie wollten: ich verlor die Kontrolle.

Als mich die Pfleger anschließend in mein Zimmer gebracht hatten war es schwer wütend zu bleiben und nicht laut loszulachen. Den Erwachsenen konnte man es anscheinend einfach nicht recht machen.

Ich kam wieder zurück in die Gegenwart als ich zwei mir nur zu gut bekannte Personen im Eingang zum Besuchsraum entdeckte.

„Das kann doch nicht deren ernst sein", murmelte ich und versuchte meine innere Stimme zu ignorieren, die mich gerade auslachte, während meine Schwester und meine Erzfeindin sich durch die Tische schlängelten, um sich dann auf die beiden Stühle mir gegenüber fallen zu lassen. Ich sah sie an und versteckte meine Wut hinter einer Fassade der Gleichgültigkeit.

„Was willst du hier?", fragte ich Amelie und ignorierte Sophia dabei. „Wir sind hier um dir zu helfen", erwiderte sie mit mitleidiger Stimme. Sie versuchte meine Hand zu ergreifen, die auf dem Tisch lag, aber ich zog sie zurück. Ich lachte spöttisch auf.

„Na klar. Ihr seid doch nur hier, um sicher zu gehen, dass ich hier nie wieder rauskomme. Da muss ich euch aber enttäuschen. Ich werde hier schneller wieder draußen sein als ihr denkt." „Wie kannst du sowas nur sagen? Ich bin deine Schwester!" „Nein, meine Schwester ist gestorben als sie in mein Leben kam", ich deutete auf Sophia, „Sie hat meine Schwester durch etwas ersetzt, das wie meine Schwester aussieht, aber sonst keinerlei Ähnlichkeit besitzt."

Sophia öffnete ihren Mund um etwas zu sagen, aber genauso schnell schloss sie ihn auch wieder. Den Blick, der plötzlich ihr Gesicht zierte, hatte ich bei ihr noch nie gesehen. Vielleicht lag es daran, dass sie sonst nur versuchte mich mit ihren Blicken zu töten. Doch jetzt starrte sie an mir vorbei. Ich betrachtete sie noch kurz mit verwirrt zusammengezogenen Augen, bevor ich mich auf meinem Stuhl umdrehte, um zu sehen, was die Kraft hatte sie davon abzuhalten mir eine Predigt vorzutragen.

Unser Tisch befand sich ziemlich am hinteren Ende des großen Raums, weshalb es nur einen Tisch gab, der hinter uns und somit in meinem Rücken war. An dem saßen Ben und seine Schwester Ophelia mit ihrer Tante.

Ben bemerkte, dass sie beobachtet wurden und lächelte erst mir zu und zwinkerte anschließend mit einem Grinsen im Gesicht Richtung Sophia. Ich drehte mich rechtzeitig wieder um, um zu sehen wie sie sich leicht errötet abwandte. Ich lächelte wissend.

Da steht wohl einer auf die Hardcorefälle, was?" Nun richtete Sophia ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Ich weiß nicht was du meinst. Außerdem ist niemand so schlimm wie du." Ich schüttelte den Kopf und beugte mich so weit nach vorne, dass sie gar nicht anders konnte als mir ins Gesicht zu sehen.

„Du bist nicht besser als ich. Genau genommen bist du sogar schlimmer. Du tust so auf selbstgerecht und verabscheust jeden in diesem Raum, aber wir wissen doch beide, dass du hier her gehörst. Und wenn du könntest würdest du zu Ben da hinten gehen und alle deine schmutzigen Gedanken mit ihm ausleben, die du sonst immer nur mit deinen kleinen Püppchen nachspielst."

Während meines kleinen Monologs wurde mein Grinsen immer breiter und die Wut in ihrem Gesicht immer größer. Jetzt schrie sie laut auf und stürzte sich tollwütig auf mich. Ich lachte laut und hysterisch auf als ich von ihr auch schon zu Boden gerissen wurde. Die Pfleger zerrten sie von mir runter, bevor etwas passieren konnte und schoben Sophia zusammen mit meiner Schwester nach draußen.

Der neue Pfleger kam zurück, packte mich am Arm und führte mich nach draußen.

„Ich sagte Ihnen ja, dass mich niemand besuchen will."


LügenkindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt