Schuljahrbeginntraditionen

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Vier Tage. So lange kannte ich nun schon Cece und ihre Freunde. John, Sam und Anna, die auch bei mir in der Klasse waren, waren von Anfang an genauso nett zu mir wie Cece. Obwohl John sich manchmal komisch verhielt. Er hatte kurze braune Haare und ebenso braune Augen. Man hätte meinen können, dass er älter war als der Rest von uns, denn sein Gesicht zierte ein Dreitagebart. Wenn er dachte, dass es niemand mitbekam, sah er mich mit einem merkwürdigen Blick an, den ich nicht deuten konnte. Vielleicht war ich auch nur paranoid.


Mittlerweile war es Freitag, was Mathe in der siebten und achten Stunde hieß. Die meisten beschwerten sich, dass die letzte Stunde vor dem Wochenende ausgerechnet Mathe war, aber mir kam das nur gelegen. Ich hatte schon immer ein Händchen für logisches Denken. Vielleicht war das auch einer der Gründe für mein Talent zu lügen. Vielleicht besaßen die Menschen einfach nicht die nötige Raffinesse. Ich war nicht gestört, im Gegenteil. Ich hatte ihnen etwas voraus.


Dazu kam, dass wir Mathe bei Herr Waldheim hatten - eine Tatsache, die die Mädchen weniger frustriert klingen ließ als die Jungen. Klar, er sah gut aus. Keine Frage. Vermutlich gab es auch unter den Lehrerinnen die ein oder andere, die seinen Rehaugen und diesem Grübchen verfallen war. Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen war er gerade erst mit seinem Referendariat fertig (so jung sah er zumindest aus) und gehörte nicht zu der Sorte Sportlehrer, die gleich außer Atem waren, wenn sie mal mehr als zehn Meter joggen mussten.


Aber vor allem, um zum Matheunterricht zurückzukehren, konnte er gut erklären.


"Hey. Emilia. Hörst du mir überhaupt zu?" 


Ich hörte auf die Aufgabe von der Tafel abzuschreiben, an der uns Herr Waldheim gerade das Thema erklärte, und sah zu Cece. 


"Nein, entschuldige. Was gibt's denn?" 

"Naja, bei uns ist es schon quasi eine Tradition, dass wir am ersten Freitag des neuen Schuljahres eine Party bei mir veranstalten. Meine Eltern sind wie üblich die ersten beiden Septemberwochen nicht da. Wenn du willst kannst du gern kommen." 


Ihr Blick war freundlich wie immer und bedeutete eigentlich, dass es meine eigene Entscheidung war. Doch der leise Unterton in ihrer Stimme ließ es wie einen Befehl klingen. Es war schwer zu sagen, ob jemand anderem auch diese Veränderung aufgefallen wäre. Da ich mich darauf trainiert hatte solche Schwankungen zu erkennen, egal wie klein sie waren, war es gut möglich, dass Cece selbst sich dessen nicht bewusst war. Ich nickte also und lächelte ohne mir etwas anmerken zu lassen. 


"Klar, ich komme gern." 


"Super. Dann komm gleich nach der Schule mit Anna, Becca und Stella mit zu mir. Am besten sagst du Bescheid, dass du bei mir übernachtest. Es wird sicher spät." 


"Aber ich hab doch gar nichts dabei!" 


"Das ist kein Problem, ich leihe dir meine Sachen." 


"Okay", sagte ich tonlos und als sie sich wieder von mir abwandte, folgte ich wieder dem Unterricht.


"Oh, eine Party. Das wird bestimmt lustig. Aber vielleicht solltest du Mami und Daddy davon nichts sagen. Nenn es lieber einen Filmabend mit Übernachtung. Sie würden ausrasten, wenn sie hören, dass du auf eine Party gehst. Schließlich verträgt sich das nicht mit deiner Therapie..."

 
So sehr ich es hasste das zugeben zu müssen, hatte meine innere Stimme, der kleine Teufel auf meiner Schulter, recht. Dieses eine Mal konnte ich es ja tun. Sie würden die Wahrheit nie erfahren. Und es war schließlich keine schlimme Lüge. Es diente zu ihrem eigenen Schutz, ihrer Beruhigung. Was machte diese eine Lüge schon aus? Sie waren bereits überzeugt, dass mit mir alles seine Ordnung hatte. In dieser kurzen Zeit Freunde zu finden war da doch eine Bestätigung. In ihren Augen musste ich "normal" sein - langweilig passte besser.

Anderthalb Stunden später betrat ich mit den anderen Mädchen das Haus von Ceces Familie - oder eher die Villa der Familie. Es war definitiv größer als jedes Haus in der Umgebung. Das Gebäude allein war doppelt so groß wie die übrigen und das Grundstück an sich dreimal so groß. Von innen wirkte es glücklicherweise weniger angsteinflößend. Links und rechts führten jeweils Treppen nach oben in das nächste Stockwerk. Ging man weiter gerade aus kam man in einen Raum, der wie das Wohnzimmer aussah. Dahinter konnte man durch eine lange Glasfront den Garten erahnen. Cece und die anderen liefen jedoch die linke Treppe nach oben und ich beeilte mich ihnen zu folgen. 


Oben angekommen folgte ich ihnen weiter durch die erste Tür in Ceces Zimmer. Dort angekommen gingen sie sofort zu dem Monstrum von einem Schrank, welchen Cece öffnete. Spätestens jetzt musste mir meine Überraschung ins Gesicht geschrieben stehen. Das war kein Schrank, das war ein extra Raum für Klamotten. Wie konnte ein Mensch nur so viele Sachen besitzen? Sich mit Cece anzufreunden war definitiv die richtige Entscheidung gewesen. Ein Glücksgriff im wahrsten Sinne des Wortes. Ich musste nur weiterhin alles richtig machen. Ein leises "Wow" entwich mir und die anderen grinsten. Cece winkte mich zu ihnen. 


"Kommt Mädels, wir müssen uns für die Party noch umziehen."


Wir betraten den Kleiderschrank und wie selbstverständlich wandten sich meine neuen Freundinnen der Seite mit den Kleidern zu. Nicht nur, dass es um die fünfzig oder sogar mehr sein mussten, die Kleider waren auch noch farblich sortiert wie ein Regenbogen. Cece begann ihre Sammlung durchzusehen und als sie Anna ein dunkelblaues Kleid hinhielt, die es nahm und daraufhin passende Schuhe suchen ging, war mir klar, dass Cece bestimmen würde wer was tragen würde. Das war auch ihr gutes Recht immerhin waren es ihre Sachen. Hier musste ich mich unterordnen, aber das hatte ich auch vorher schon gewusst. Sie war die Anführerin, nicht ich. Noch nicht.


Ich fragte mich nur was das für einen Sinn hatte, wenn es nur eine kleine Party werden sollte. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt auch nicht ahnen was ich zu erwarten hatte.


Nur kurze Zeit später trug ich selbst eines von Ceces Kleidern. Es war schwarz und bedeckte gerade meinen Hintern. Der Ausschnitt war hochgeschlossen und die Cutouts betonten meine schmale Taille. Es hatte lange Ärmel, was im Sommer normalerweise unpraktisch war, doch der Stoff war so angenehm, dass es mich nicht störte. Es schmiegte sich an mich wie eine zweite Haut. Die Highheels waren ebenfalls schwarz. Eigentlich mochte ich Highheels nicht besonders. Aber was tat man nicht alles, um dazu zu gehören.


Als jede von uns ihr Kleid anhatte, halfen wir uns noch gegenseitig mit Haaren und Make-up. Das war nicht meine erste Party und wenn ich es nicht vermasselte würde es nicht meine letzte in diesem Kreis bleiben.

--> überarbeitet


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