Kapitel 3

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Dieser Seelenraum, wie ich die Dinger irgendwann einmal getauft hatte, bildete einen extremen Kontrast zu Kimberleys. Wo bei Kimberley weiße Wände empor ragten, war hier Dunkelheit. Wände waren nicht vorhanden, genauso wenig irgendetwas anderes. Ich sah nichts - und niemanden. Niall blieb verschollen. Als mich etwas streifte, zuckte ich merklich zusammen. Normalerweise bewegte sich in einem Seelenraum nichts. Selbst ich stand meist nur dumm da. Doch hier schien alles anders zu sein. Mich überforderte die Situation, zugegeben. Ich hielt Ausschau nach einem Lebenszeichen, vergeblich. Entweder Nialls Seele war derart dunkel und schwarz oder... er besaß keine Seele. Letztere Möglichkeit beschaffte mir eine Gänsehaut. Ohne Seele konnte man nicht leben? Oder?

Erneut streifte mich etwas, dann wurde ich zurück in die Realität katapultiert. Mein Atem ging schnell, viel zu schnell. Niall starrte mich mit leicht geöffnetem Mund an. Ich gab mir selbst die Erlaubnis, ihn kurz zu mustern. Er war eindeutig ein seltenes Prachtexemplar. Mit einem Lippenpiercing, schulterlangen Locken, die unglaublich schmeichelnd seinen Hals umspielten und sogar einem Ohrring, der womöglich genauso groß war wie sein Ohr selbst. Ich vermied den Blick in seine Augen, obwohl ich noch so gern herausgefunden hätte, welche Farbe sie hatten. Da er mich anstarrte, wusste ich nicht, wie seine Lippen aussahen, wenn sie ein Lächeln andeuteten. Insgeheim hoffte ich, dies demnächst zu erfahren. Womöglich auch, wie besagte Lippen schmeckten...

Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob er nun seelenlos oder ein echter Griesgram war. Beides würde nichts gutes verheißen. Kimberley runzelte die Stirn. "Soll ich dir vielleicht mit dem Staubsauger helfen?", fragte er, wohl um mich aus meiner verzwickten Lage zu retten. Dankend nickte ich. Trotzdem wollte sich mir nicht erschließen, was es mit diesem dunklen Seelenraum auf sich hatte. "Gleich wieder da", fügte Kim an Niall gewandt hinzu. Dieser aber hatte nur Augen für mich. Ich rechnete fest mit einem beleidigenden Kommentar, einem Lachen oder sonstiger Reaktion, die folgte, wenn ich aus Versehen in einen Seelenraum eindrang. Stattdessen sagte Niall nur: "Kay, man sieht sich." Hatte ich mich verhört? Nein, defintiv nicht. Denn als ich zum wiederholten Male in seine Richtung guckte, hatte er sich längst in die Wohnung begeben. Die braunen Locken schmiegten sich dabei anmutig um seinen Kopf, erinnerten mich automatisch an das Fell des Meerschweinchens, das Waisenheimleiterin Barbara uns mitgebracht hatte, als ich noch kleiner gewesen war. Wir nannten es liebevoll Bux und fünf Tage später war es plötzlich verschollen gewesen. Ich erinnerte mich an die zahlreichen Tränen, die ich infolgedessen vergoss.

"Danke", sagte ich, als Kimberley mir den Staubsauger aus der Hand nahm. Den ersten Treppenblock bestiegen wir schweigend. Schließlich durchbrach er die Stille. "Hast du...", begann er, wusste anscheinend jedoch nicht, wie er den Satz beenden sollte. Seufzend kratzte ich mich am Kopf. "Seine Seele gesehen?" Ich versetzte mich zurück in diese völlige Schwärze. "Nein." "Wie Nein? Du standest da, als habest du einen Geist gesehen - besser gesagt, eine Seele." Das mochte sein. "Ja, doch. Es war nur...merkwürdig", sagte ich. "Merkwürdiger als für gewöhnlich?" Ich hatte Kim vor etwa einem halben Jahr von den Filmen erzählt. Viel mehr war ich komplett durch den Wind gewesen, weil ich in die Augen eines Mitbewohners geschaut hatte, der behauptete, mich zu mögen. Herausgestellt hatte sich, dass er eine Wette verloren hatte. Es hatte einen Splitter meines Herzens herausgerissen und ich war direkt zu Kim gerannt. Der hielt mich für geistesgestört, ehe ich ihm die Wahrheit anvertraute. Nämlich, dass ich Menschen in ihrem wahren Ich sah. "Merkwürdiger als für gewöhnlich", bestätigte ich.

"Ich weiß, dass ich von dir verlangt habe, nie zu erfahren, wie es einem von deinen Filmen aussieht, Ruby. Aber ehrlich gesagt könnte es nicht schaden, mich aufzuklären. Wenn etwas mit Niall nicht stimmt, würde ich das gerne wissen. Wir sind quasi wie Brüder." Keine Ahnung, was mit Niall nicht stimmte. Womöglich hatten meine Augen mir einen Streich gespielt oder das Licht in seinem Seelenraum war ausgegangen. Das musste es sein! Einmal war es so gewesen. Unsere damalige Lehrerin hatte so eine verpeilte Persönlichkeit gehabt, dass tatsächlich die Lampe ausgefallen war. Während ich mit dem Gedanken spielte, Nialls Seele einen zweiten Besuch abzustatten, stellte Kim den Staubsauger mit Nachdruck vor mir ab. Wir waren da. "Ruby? Ich meine es ernst. Verrate mir, was du gesehen hast." Ich presste meine Handflächen auf einander. "Glaubst du, ich kann noch einmal nachgucken?" Um Nialls Willen, selbstverständlich. Nicht, weil ich vor Neugier beinahe umkam. "Lässt er das mit sich machen?", hakte ich nach.

Kim schüttelte den Kopf. "Niall ist ziemlich...eigen. Wenn ich ihn frage, ob du mirnichtsdirnichts in seine Augen glotzen darfst, knallt er mir eine." Das konnte ich irgendwie nachvollziehen. Er würde uns für verrückt halten, mich mehr als Kim, aber immerhin. "Sags mir", forderte Kim. Ich beschloss, es drauf ankommen zu lassen. Das nächste Mal - und es würde ein nächstes Mal geben - würde ich ihm wieder in die Augen schauen und in seinem Seelenraum würde ich nach dem Lichtschalter suchen. Hoffentlich fand ich ihn dann auch. Sonst mussten wir uns ernsthafte Sorgen um Niall machen, vermutete ich jedenfalls. "Eigentlich war alles normal. Zumindest wirkte er nicht unehrlich oder so", log ich. Kim sollte sich keine Sorgen machen, bevor wir keine Gewissheit besaßen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. "Aber er hatte keinen weißen Anzug an, so wie ich?", fragte Kim nach. Nein, er hatte garkeinen an. Doch das sagte ich nicht. Anstelle dessen antwortete ich betont gleichgültig: "Das nicht." "Dann bin ich beruhigt. Ich meine, ich bin was besonderes, richtig?" Ohja. Das war er. Genauso sehr wie mich Nialls Dunkelheit beschäftigte, interessierte mich Kimberley weißer Aufzug. Es war zum Totlachen - naja, oder auch nicht.

Wir lächelten zum Abschied verhalten. Schon komisch, da kannte ich Kimberley mittlerweile seit zwei Jahren und verhielt mich in seiner Anwesenheit, als wäre er ein Fremder, dem ich soeben auf der Straße begegnet war. Vermutlich mussten wir erst auftauen. Kim lief die Treppen zu seinem Zuhause nach unten und ich packte den Staubsauger am Griff. Fehlte nur noch, dass GGG mich zum Staubsaugen rekrutieren wollte(was er letzten Endes auch wirklich tat).

Und hier das dritte Kapitel, irgendwelche Meinungen zu den Seelenräumen oder zu Kimberley und Niall? Ich persönlich mag ja GGG am liebsten, aber von dem habt ihr bisher noch nicht viel mitbekommen xd. Mal sehen, was sich da machen lässt... xxx 


In Seinen Augen #Wattys2017 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt