Kapitel 24

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Es war mehr als surreal, dass ich eine halbe Stunde später tatsächlich im Schulgebäude stand. Corine und ich hatten den ersten Kurs gemeinsam, weswegen wir nebeneinander eine große Wendeltreppe nach oben stiegen, gefolgt von weiteren Schülern in unserem Alter. Sie alle schlurften die Treppen nach oben wie Leichen. Ich dagegen sprang förmlich. Ernsthaft, obwohl mein Verstand sich dagegen sträubte, ging es mir prima. Corine kam nicht auf den gestrigen Nachmittag zu sprechen und ich mied das Thema ebenso. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, mich zu fragen, wieso Grant mich anlog. Außerdem befand sich auch Niall unter den anderen Kursteilnehmern. Er überholte uns auf der Wendeltreppe und lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Hände steckten in dicken schwarzen Handschuhen. Komisch, dabei hatten wir doch September. Reichlich früh um Wintersachen auszukramen, oder nicht? Ich zwang mich, nicht weiter darüber nachzudenken. Bestimmt fror er einfach nur schnell. Aber im Kursraum fiel mein Blick immer wieder rein zufällig auf seine Hände. Er zog die Handschuhe nicht aus. So kalt konnte ihm gar nicht sein. Es sei denn, ich wurde allmählich paranoid. "Ruby, du, es tut mir echt wahnsinnig leid, dass ich dir gestern abgesagt habe." Corine knuffte mich entschuldigend in die Seite. Sie hatte..abgesagt? Hä. Ich runzelte die Stirn, antwortete aber nichts darauf. Heute benahmen sich die Menschen allesamt komisch. Mich eingeschlossen. Ich packte meine Stifte aus, sortierte sie wie jeden Tag. Niall saß zwei Plätze schräg gegenüber von mir und mir fiel erst auf, dass er mich beobachtete, als es klingelte. Sofort hafteten meine Augen an ihm wie Kobalt an einem Magneten. Ich erwartete einen Kommentar, irgendetwas, das aussagte: Hallo, ich habe Gefühle und ich finde dich schräg. Doch nichts kam. Er starrte mich nur an. Seine Augen wirkten leer und kalt.

Moment. Seine Augen? Ich sah ihm in die Augen? Anscheinend schon. Aber wie war das möglich? Jeden Moment machte ich mich darauf gefasst, in die Dunkelheit abzudriften. Nichts geschah. Absolut gar nichts. Deswegen beließ ich es dabei. Während der Unterricht also seinen Lauf nahm, unterzog ich seine Augen einer genauen Untersuchung. Zu meiner Überraschung tat er es mir nach. Wir musterten uns gegenseitig. Ich, verwirrt und gleichzeitig erleichtert, weil ich ausnahmsweise nicht von komischen Nebelschwaden in die Tiefe geschubst wurde, und er, gefühlslos und undurchschaubar. Ich hatte keine Ahnung, warum er sich nicht wegdrehte. Corine hatte recht gehabt. Seine Augen waren gold.

Der Schein der aufgehenden Sonne brachte sie zum Glitzern. Sie faszinierten mich. Zum ersten Mal nahm ich mir die Mühe, sein Gesicht richtig wahrzunehmen. Er hatte diese total scharfen Wangenknochen, von denen Mädchen wie ich nur träumen konnten. Seine Lippen waren voll und rot, gut durchblutet. Dennoch schien er sich an einer Stelle daraufgebissen zu haben. Die langen Haare hatte er sich hinter die Ohren gesteckt, wodurch man den Ohrring und den Piercing gut sehen konnte. Man, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Piercings einen Typen so interessant machten. Neben dem an seinem rechten Ohr, befand sich einer an seiner Unterlippe. Er war kleiner, bestand aus schwarzem vermutlich Plastik und verlieh seinen Lippen etwas mysteriöses. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob der Piercing ihn manchmal störte. Also bei bestimmten Dingen. Und gleich darauf wollte ich mich selbst ohrfeigen. Seine Augen leuchteten von Minute zu Minute stärker, sogen meinen Blick quasi in sich auf. Keiner von uns wagte es zu blinzeln, bis der Lehrer an der Tafel Niall aufforderte, ihm zu verraten, was ein Phänomen sei. Auch da ließ er keine Sekunde von mir ab, sagte nur lauter als vermutlich beabsichtigt: "Ein Phänomen ist ein außergewöhnlicher Mensch." Kein Blinzeln. Keine Unterbrechung unseres Blickkontaktes. Ich genoss es, ihn anzusehen. Trotz der nicht vorhandenen Emotionen seinerseits, fühlte ich dabei eine Menge. Zum Beispiel, wie mein Herz unnormal schnell klopfte.

In der Pause saßen Corine und ich wieder auf dem selben Platz wie gestern. Ich hoffte inständig, dass Niall unser Mittagessen dieses Mal nicht stören würde. Mehrere Male blieb mein Blick dennoch an Nialls eigentlichem Stammtisch hängen. Daizy und Tschads Lachen hallte durch die Cafeteria, doch von Niall keine Spur. Er war nicht bei ihnen, ergo konnte er uns genauso wenig stören. Ich wusste nicht, ob ich das jetzt gut fand oder..."Wir könnten das Treffen nachholen", meinte Corine zu mir, als ich gerade zum siebten Mal zum anderen Tisch schwenkte. "Was?", sagte ich. Ich hatte nicht zugehört, was sie zuvor gesagt hatte. Eigentlich hörte ich heute gar nicht hin. "Na gestern, du sagtest am Telefon, wir könnten es verschieben." Soso. Hatte ich das gesagt? Ich erinnerte mich an kein Telefonat, geschweige denn daran, dass sie abgesagt hatte. Verdammt, wieso dachte sie, wir hätten telefoniert? Irgendwie hielt ich es trotzdem für klug, meine Gedanken für mich zu behalten. Womöglich hatte man sie einer Gehirnwäsche unterzogen und sie würde durchdrehen und gleich eine Knarre auskramen um sich selbst und dann die ganze Cafeteria zu erschießen. Ich kam immer mehr zu der Ansicht, dass Niall recht gehabt hatte, als er behauptete, ich las zu viel. Manchmal bildete ich mir ein, ich wäre sowas wie die Heldin in meinem eigenen kleinen Roman. Das ging schon so weit, dass ich an Gehirnwäschen und so Zeugs glaubte.

"Wann hast du Zeit?", fragte ich, weil ich annahm, dass sie auf diese Frage wartete. So war es, denn sie antwortete keine eine Sekunde später. "Freitag. Lass uns Freitag in diese Kneipe gehen, von der du erzählt hast." Oh nein. Langsam machte ich mir Sorgen. "Liest du Zeitung?", hakte ich nach. Sie schüttelte den Kopf. "Nein, meine Eltern finden Zeitungen nutzlos. Sie sagen, es würde uns schaden, wenn wir unsere Gehirne mit Dingen vollladen, die uns nichts angehen. Letztens habe ich mir eine aus dem Briefkasten unseres Nachbars stipitzt. Boah, hast du gelesen, dass man einen Mann halbnackt und mit halbem Gesicht aufgefunden hat? Unfassbar. Ich verstehe meine Eltern schon. Immerhin hab ich nichts mit diesem Mann zu tun. Aber gleichzeitig gefällt es mir, mitzubekommen, was in der Welt so los ist. Das hat was Aufregendes. Wieso fragst du denn?" Wenigstens redete sie noch wie ein Wasserfall. Da hatte man ihr bei der Gehirnwäsche zumindest eins gelassen. "Die Kneipe ist gestern abgebrannt", sagte ich. Ihre Leidenschaft für das Zeitungen lesen konnte ich nachvollziehen. Ich selbst hatte im Waisenheim immer auf die Post gewartet um mir die Zeitungen als erste unter den Nagel zu reißen. Weltgeschehen und Politik hin oder her, mich interessierten hauptsächlich die Parts über geheimnisvolle Verbrechen, Morde und so Kram. Natürlich, ich hatte einen heiden Respekt vor der Polizei, aber ich liebte es, selbst Detektivin zu spielen. Das könnte auch mit dem Lesen von Krimis zusammen hängen.

Corine zuckte zusammen. Es war, als stünde die Zeit still. Dann ließ sie ein Grunzen erklingen und alles ging weiter wie vorher. Hatte ich einen Punkt getroffen? Hatte sie vielleicht doch erkannt, dass wir uns gestern getroffen hatten? Ich explodierte beinahe vor Neugier. Nach der Mittagspause brachten wir unsere Tabletts davon. An der Essensausgabe stieß ich mit Niall zusammen. Unsere Hände berührten sich und er zuckte zurück. Wieso war die Welt an diesem Tag so merkwürdig? Immer noch hatte er seine Handschuhe an. Ich machte es zu einer weiteren meiner Aufgaben, ihm diese Handschuhe auszuziehen.

Ohje, dieser letzte Satz klingt gar nicht zweideutig oder so. Nein. Hahaha tja, it's going on. Dieses Kapitel finde ich persönlich besser wie die beiden letzten. Ihr könnt mir ja mal in die Kommentare schreiben, ob ihr das auch so seht oder überhaupt, was ihr von den bisherigen 24 Kapiteln haltet. 25 Kapitel, also morgen, ist ein Jubiläum nh. Hach, ich will nichts verschreihen, aber im Moment hab ich echt das Gefühl, dass ich voran komme xxx 

In Seinen Augen #Wattys2017 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt