Kapitel 8

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Die Tasse Kakao, die ich mir gestern Abend so sehr herbei gesehnt hatte, bevor ich ohnmächtig wurde, bekam ich dann nachträglich. Grant hatte sich, während ich seinem Seelenraum einen Besuch abstattete, in die Küche aufgemacht. Komisch, eigentlich hätte er doch bemerken müssen, dass etwas nicht stimmte. Hätte er nicht stocksteif am Türrahmen stehen müssen? Langsam begriff ich, dass diese Gabe viel größer war, als ich gedacht hatte. Vermutlich zu groß für jemanden wie mich. Als ich gerade zurück in mein Bett kriechen wollte, erschien Grant in meinem Zimmer, die dampfende Kakaotasse in der Hand. "Ich dachte mir, den könntest du jetzt gebrauchen", sagte er und setzte sich auf den Stuhl, der an einem kleinen Schreibtisch stand. Darauf reichte er mir die Tasse. Er hatte diesen Raum speziell für mich eingerichtet. "Danke."

Ich vergrub das Gesicht im Dampf, der aus der Tasse empor stieg. Grant räusperte sich ein paar Mal. Ich spürte seinen Blick auf mir. "Sag mal, hast du deine Eltern jemals kennengelernt?" Diese Frage war so absurd, dass ich mich am Kakao verschluckte. "Nein", japste ich. "Wieso?" Irgendetwas riet mir, ernst zu bleiben. Grant starrte mich durch den Kakaodampf schweigend an. Großer Gott. Allmählich begann ich zu frösteln. Ich rieb mir mit der freien Hand über die Arme. "Du hast nach deinem Dad gerufen. Gestern, kurz vor der Ohnmacht. Und als wir dich nach Hause getragen haben", erklärte er. Folglich nahm er selbst einen Schluck seines Kaffees. Die Tasse hatte ich zuvor gar nicht bemerkt. Auweiha. Ich hatte nach meinem Vater gerufen? Dem Kerl, der mich gezeugt hatte? Verrückt. "Warum sollte ich das tun?", sprach ich meine Gedanken laut aus. Grant zuckte mit den Achseln.

"Weißt du denn, wer er war?" Kopfschüttelnd trank ich von meinem Kakao. Die Waisenheimangestellten hatten mir alles genommen, was ich bei meiner Ankunft im Gepäck hatte - inklusive Erinnerungsstücken. Ich wusste, dass ich damals, mit knapp vier Jahren, einen Teddybären bei mir trug, dessen T-Shirt ein Foto von mir, einer Frau und einem Mann zeigte. An mehr konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern. "Er war...Er hat mich gezeugt", sagte ich nur. GGG nickte. "Ich glaube, er war ziemlich groß. Seine Frau, meine Mutter, war auch ziemlich groß. Ich weiß, das passt nicht, weil ich sehr klein bin, aber ihre Größe ist das einzige, an das ich mich erinnere. Und dieser Teddybär." Ich schmunzelte. "Der Teddybär war mein bester Freund. Sie haben ihn mir weggenommen." Meine Augen wurden glasig. Aber ich fühlte mich nicht traurig. Ich fühlte gar nichts. Genau genommen fühlte ich nur die unbändige Wut auf Waisenheimleiterin Barbara. Ich hasste diese Frau.

"Entschuldige, ich wollte dich nicht irgendwie..." Grant stand auf, entschuldigte sich zwei weitere Male. Er hatte augenscheinlich erkannt, was dieses Thema in mir hervorrief. Ich schüttelte noch mal den Kopf. Die Gedanken an meine leiblichen Eltern waren so verwirrend wie Niall und der tote Mann zusammen. Vermutlich musste GGG mich ins Irrenhaus einweisen lassen, wenn das alles so weiter ging. "Kein Problem." Ich entschied, dass ich genug geschlafen hatte. Heute war Sonntag. Morgen würde die Schule anfangen. Und ich wollte den heutigen Tag nutzen und leben - weil ich das so lange verwehrt bekommen hatte. "Hast du irgendeine besondere Sonntag-Morgen Tradition? Die Leute in Büchern oder im Internet gehen frühshoppen oder so." Grants schuldbewusste Miene wich einem belustigten Grinsen. "Tatsächlich. Normalerweise schnappe ich mir Kimberley und fahre mit ihm in unser Lieblingsrestaurant." Ich sprang aus dem Bett und ging zu meinem Koffer. Den würde ich noch am Abend auspacken, das versprach ich mir. "In fünf Minuten können wir los", meinte ich. Ich hörte Grant hinter mir lachen. Dann verließ er das Zimmer, damit ich mich umziehen konnte. Eigentlich war GGG gar nicht so übel. Über die Tatsache, dass er keinen Staubsauger im Haus hatte, konnte ich hinweg sehen.

Tatsächlich betraten wir wenig später kein Restaurant, sondern eine Kneipe. Das hätte ich mir denken können. Männer wie Grant gingen nicht in normale Restaurants. Mit seinem karierten Holzfäller-Hemd passte er perfekt in diese Kneipe. Ich eher nicht. Ich trug einen weiten Pullover, den ich einer anderen entwendet hatte, Jeans und Sneakers. "GGG!" Die Frau an der Theke winkte meinem Pflegevater lächelnd zu. Sie sah nicht besonders hell aus, viel mehr wie eine typische Barista - blond, aufgespritzte Lippen. Ich verwettete meinen Pullover darauf, dass ihre Augen blau waren. "Das Übliche?" Sie stand sofort an unserem Tisch. GGG runzelte die Stirn, ehe er sie bat, mir die Karte zu bringen. Ihr Blick streifte mich nur flüchtig. Anscheinend nahm sie nur Grant wahr. Umso besser. Die Karte war recht übersichtlich. Ich bestellte Ei mit Toast, Grant bekam ein Omelett gebracht. "Und ihr verbringt hier jeden Sonntag Morgen?", wollte ich von ihm wissen. "Jeden Sonntag Morgen", bestätigte er. Dann schnappte er sich eine herumliegende Zeitung und begann darin zu blättern.

Ich widmete mich ganz meinem Frühstück und betrachtete derweil die Leute in der Kneipe. Sie waren meist in GGG's Alter, tranken schon ihr vermutlich drittes Bier und ließen es sich gut gehen. Ein älterer Herr im gestreiften Polohemd winkte Blondi gerade zu sich und bestellte das nächste Bier. In dem Moment öffneten sich die Schwingtüren und ein Pärchen kam in die Kneipe. Überraschender Weise mussten die beiden in meinem Alter sein. Der Junge schien sich pudelwohl zu fühlen, anders als seine Freundien. Sie schrumpfte in seinen Armen. Als ihr Blick für einige Minuten auf mich fiel, entspannte sie sich ein bisschen. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin auch die letzte Anspannung von ihren Schultern fiel. Sie grinste, warf ihre langen blonden Haare in den Nacken und lachte. Er streichelte ihr über den Kopf. Grübchen bildeten sich in seinen Wangen und ehe ich wusste, wie mir geschah, standen die beiden vor unserem Tisch. Hoffentlich fingen sie jetzt kein Gespräch an.

Ahhhhh, das nächste. Neue Personen. Was meint ihr, fangen die beiden ein Gespräch an? Wer sind sie? *grins* xxx   

In Seinen Augen #Wattys2017 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt