Kapitel 68

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Endlich schaffte ich es, meine Sorgen beiseite zu schieben und mich ganz darauf zu konzentrieren, eine Teenagerin zu sein - Ruby zu sein. Corine zeigte mir ein Foto von sich und ihrem Ex-freund, das mich in der Tat zum Lachen brachte. Es war die Art, wie sie in die Kamera schauten. Liebestrunken, ausgelassen, glücklich. Corines Augen waren halb geschlossen und die ihres Freundes lagen wortwörtlich in ihrem Ausschnitt. Irgendwie erinnerte er mich an Nick - ihr wisst schon, Daizys Freund, der zufällig auf dieselbe Schule wie jemand ging, den ich für den Abend aus meinem Gehirn verbannt hatte. Nachdem sie mir noch weitere seltsame Bilder vor die Nase gehalten hatte, beschlossen wir, den Schulstoff durchzugehen und danach...kehrte Grant heim. Ich hätte ihm vorher sagen sollen, bis wann er sich bedeckt halten sollte. Wir waren gerade in ein Gespräch über Virginia Stacy vertieft, als die Haustür aufging. Ich schnappte mir sofort ein dickes Schulbuch und stieß leise meine Zimmertür auf, weil ich beim besten Willen glaubte, Grant sei ein Einbrecher, oder schlimmer, Kim.

"Oh, du hast noch Besuch", stellte er fest, als Corine hinter mir erschien,ebenfalls mit einem Schulbuch bewaffnet. "Gut kombiniert", seufzte ich. "Was hattet ihr mit den Büchern vor?", fragte er, als ich mir die Hand gegen die Stirn klatschte. "Du hast recht, wir reden nie wieder darüber, wie der Bart deines Pflegepapas aussieht, versprochen!", flüsterte Corine mir ins Ohr. Ohje. Die Situation konnte nicht peinlicher werden. "Die Bücher schützen uns vor potentiellen Einbrechern!", erklärte ich so würdevoll wie möglich. An Corine gewandt, flüsterte ich zurück: "Danke." Stille entstand, die Grant nutzte um seine Jacke über die Plastikstühle zu hängen und sich zwei herumliegende Hausschuhe zu schnappen, die nicht zu einander passten. Er rutschte mit den Füßen hinein. Wir beobachteten ihn dabei. Dann seufzte ich erneut, bevor ich die Sache selbst in die Hand nahm.

"Grant, das ist Corine", ich deutete auf meine Freundin und nahm ihr gleichzeitig das Schulbuch aus der Hand. Wir mussten ja nicht beide wie die Volldeppen aussehen. "Corine, das ist Grant, mein Pflegevater." Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, wie Corine ein Lächeln andeutete und die Hand ausstreckte. Auch Grant lächelte ein bisschen. Prima! "Du kannst mich ruhig GGG nennen", sagte er, ehe er nach ihrer Hand griff und sie schüttelte. "Freut mich, sie kennenzulernen GGG." Corine klang schüchtern. Huh, das war ich gar nicht gewohnt. Normalerweise brabbelte sie doch mir nichts dir nichts drauf los! Sachen, die gab's. "Wir verschwinden dann mal wieder", meinte ich und zog Corine am Arm mit mir in mein Zimmer. Wir schmissen die Bücher achtlos auf mein Bett. Nialls Vater verließ mein Zimmer, als die Tür nur noch einen spaltbreit geöffnet war. Vermutlich interessierte er sich mehr für Grant und seine Fernseh-Gewohnheiten als für unsere Lästereien über die Schule.

"Das war..." "Etwas merkwürdig", vollendete Corine meinen Satz. "Exakt. Tut mir leid, er ist einfach kein besonderer Menschenliebhaber. Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin der Mann im Haus." Corine prustete drauf los. "Wie kannst du das Gefühl haben, du seist der Mann im Haus? Bist du behaart wie ein Affe? Oder trägst du insgeheim einen Schnurbart?" Ich fiel mit ein in ihr Gelächter. "Wir wollten aufhören, über Bärte zu reden. Du hast es versprochen!" "Ich habe nur versprochen, nichts mehr zu dem Bart deines Dads zu sagen." Meines Dads. Eine einfache Bemerkung, die mich zurück auf den Boden der Tatsachen brachte. Ich hörte auf zu lachen wie ein Otter, blickte stur auf meine Hände. Corine bemerkte es glücklicherweise nicht, klatschte nur vergnügt in die Hände. "Wenn du dich wie ein Mann fühlst, solltest du mal mit dem Schulpsychiater reden! Meine Mum meinte letztens, sie hätte was gut bei ihm und ich solle doch mal hin gehen." Ich probierte zu grinsen. Fehlschlag. Ihre Mum. "Aber so Psychozeugs gehört nicht zu meinen Interessen. Früher war ich mal besessen davon, zu erfahren, welche Krankheiten es gibt. Ich hab mir sogar eingeredet, sie alle zu haben, ist das zu fassen? Jedenfalls hat sich herausgestellt, dass ich keine hatte oder habe." "Das beruhigt mich ungemein", warf ich ein, weniger enthusiastisch als je zuvor. "Ja, mich auch. Diese Zeit war nicht schön. Aber als meine Mum dann ankam und meinte, ich soll doch einen Termin vereinbaren, habe ich angefangen zu lachen. Ich glaube, sie hat nie ganz begriffen, dass ich diese Phase hinter mir habe." Ihre Mum.

"Was dachtest du denn, dass du hast?", hakte ich nach, um den Anschein zu erwecken, am Gespräch Teil zu haben. Es erschreckte mich selbst, wie schnell ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Ich wollte zuhören, ja wirklich. Ich wollte nicht andauernd an Dinge denken,die ich nicht ändern konnte. Wie beispielsweise den Tod meiner Eltern, die ich nie kennengelernt hatte. Wirklich. Ich wusste, dass ich es weder ändern noch rückgängig machen konnte. Trotzdem vertrieben sich die doofen Gefühle, das Vermissen, die Hoffnung, all das und noch so viel mehr, nicht. Sie blieben, wo sie waren. Ich hatte keine Chance, zu entfliehen. "Es war beängstigend. Ich lag den ganzen Tag im Bett, konnte nicht schlafen, trauerte um alles mögliche, wenn ich nicht gerade den derbsten Spaß beim Feiern oder mit meinem Ex hatte. Und ich habe geheult wie eine Irre. In meinen Augen waren das die Anzeichen für Depressionen. Also habe ich mich selbst diagnostiziert. Verrückt, ab diesem Moment ging es mir ziemlich schlecht. Bis man mir erklärt hat, dass ich weder Depressionen noch sonst eine der Krankheiten, die ich dazu gedichtet hatte, intus hatte. Ich war und bin völlig gesund.Die totale Erleichterung." Ihr Handy klingelte. Sie holte es aus der Hosentasche und holte erschrocken Luft. "So spät schon?" Ich schaute zu meinem Wecker. Es war halb zehn. "Wow", sagte ich, reichlich gefühlslos. In meinem Hirn herrschte Stillstand. In meinem Herzen dagegen Krieg.

"Da muss ich ran gehen, Ruby. Und außerdem gehe ich lieber mal nach Hause. Meine Eltern machen sich sonst Sorgen." Ich konnte mir bildlich vorstellen, dass sie mich entschuldigend anschaute. Ihre Eltern. "In Ordnung." Während sie sich das Handy ans Ohr klemmte und ihre Sachen zusammen packte, starrte ich unentwegt meine Hände an. Wieso konnte ich nicht Eltern haben, die sich sorgten, wenn ich lange weg blieb? Gut, ich hatte Grant und Grant war cool. Aber irgendwie hätte ich meine richtigen Eltern meinem Pflegevater doch vorgezogen.

Armer Grantxxx    

In Seinen Augen #Wattys2017 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt