Kapitel 9: 8. Juli 2014 Dienstag

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Mit einer Hand streicht Kimmy sich die verschwitzen Haare aus dem Gesicht, als sie sich neben Jez am steinigen Ufer des Sees niederlässt. Weil sie wieder das Gefühl hatte, ihren Freund irgendwie von Jeremy abzulenken, hat sie sich freiwillig dazu entschlossen, mit ihm Laufen zu gehen, obwohl sie mittlerweile gemerkt hat, dass Jez eindeutig eine bessere Kondition hat wie sie.

Ein Grinsen huscht über Jez' Gesicht, als er seine Freundin von der Seite mustert.

„Wehe, du lachst mich jetzt aus!" Das Grinsen liegt immer noch auf Jez Lippen, als er sich zu Kimmy herüber lehnt und ihr einen Kuss auf die heiße Wange gibt.

„Ich doch nicht." Kimmy legt den Kopf schief und sieht ihrem Freund mit einem ironischen Gesichtsausdruck in die Augen, bevor sie ihren Blick über den See wandern lässt und mit einem Fuß eine kleine Kule in den Steinstand scharrt. Eigentlich wollte sie, indem sie mit Jez laufen gegangen ist, ja erreichten, dass er nicht mehr an Jeremy denken muss, aber irgendwie hat sie das Gefühl, dass Jez ihr irgendwas wegen seinem kleinen Bruder verheimlicht. Innerlich ringt sie für einen Moment mit sich selbst, ob sie ihn jetzt darauf ansprechen soll oder nicht, doch Jez kommt ihr zuvor.

„Ich hol' Jeremy am Wochenende alleine..." Kimmy löst ihren Blick vom See und sieht ihren Freund fragend an. Bis gerade eben ist sie noch fest davon ausgegangen, dass Jez seinem kleinen Bruder zusammen mit seiner Mutter hierher holen würde, egal ob sein Vater etwas dagegen hat. „Mama bekommt keinen Urlaub, aber ich hab Jeremy versprochen, dass ich ihn an einem ersten Ferientag hol'." Wieder legt Kimmy die Kopf schief, als sie ihrem Freund in die Augen sieht.

„Und deine Mutter erlaubt das, auch wenn dein Vater nicht will, dass Jeremy hierher kommt?" Irgendwie würde Kimmy Jez auch dann nicht glauben, wenn er ihre Frage jetzt mit einem ‚Ja' beantworten würde.

„Nein..." Kimmy mustert ihren Freund besorgt, als seine Antwort überraschend leise kommt. „Sie will nicht, dass ich ihn alleine hole, aber ich hab es ihm versprochen. Und das Versprechen breche ich nicht einfach so." Anstatt Jez zu wiedersprechen und ihm zu sagen, dass er dieses Versprechen nicht halten kann, wendet Kimmy den Blick wieder ab.

„Und wie willst du zu ihm kommen?" Einen Moment schweigt Jez, als würde er selbst noch überlegen und wissen, dass sein Plan nicht gut ist.

„Mit dem Motorrad." Jez kann erkennen, wie Kimmy die Augen schließt, als hätte sie gehofft, er würde jetzt etwas anderes sagen.

„Bitte Jez, mach das nicht!" Leise seufzt Jez, als Kimmy ihm in die Augen sieht.

„Ich habe Jeremy versprochen, dass ich ihn hole und dann halte ich mein Versprechen auch. Aber ich glaub, du verstehst das nicht...", murmelt er leise und wendet den Blick ab. Erst, als er seinen Satz ausgesprochen hat, merkt er, wie hart er gerade geklungen hat. Dass Kimmy die Härte des Satzes nicht entgangen ist, spiegelt sich in ihrer Antwort wieder.

„Du kannst deinem Bruder im Gegensatz zu mir auch einfach aus Köln holen und sehen, sooft du willst!" Kimmy dreht den Kopf von Jez weg, nachdem ihre bissige Antwort über die Lippen gekommen ist. Klar weiß sie, wie hart die Antwort ist, aber trotzdem hat Jez sie gerade irgendwie verletzt. Unbewusst vielleicht, aber das ändert nichts daran.

„Kimmy..." Jez ist den einen Meter, den er bis gerade noch von seiner Freundin entfernt saß, aufgerückt und berührt mit einer Hand sanft ihren Rücken. „So war das nicht gemeint..." Einen Moment zögert Kimmy noch, dann wendet sie ihren Blick auf ihre Schuhspitzen.

„Ich hab Angst um dich, Jez..." Kimmy spürt noch immer den Blick ihres Freundes auf sich, bis sie den Blick hebt und ihm in die Augen sieht. Deutlich spiegeln sich Schuldgefühle darin. Natürlich wollte Kimmy nicht, dass Jez sich schlecht fühlt, aber sie konnte ihre bissige Antwort einfach nicht zurück halten. Einen Moment sieht Jez seiner Freundin noch in die Augen, dann hebt er eine Hand, streicht ihr damit eine Haarsträhne, die aus ihrem Zopf gerutscht ist, hinters Ohr und drückt seine Lippen dann auf ihre Stirn.

„Du brauchst keine Angst um mich zu haben...", flüstert er leise, bevor er seine Stirn gegen Kimmys lehnt und ihr in die braunen Augen sieht.

„Das sagst du so leicht." Kimmy lässt den Blick auf den Ausschnitt von Jez blauem Sportshirt wandern.

„Ich weiß...", flüstert Jez wieder, bevor er die Augen schließt und Kimmy an sich zieht, um sie einfach in den Arm zu nehmen. „Aber wenn es dich beruhigt: Emelina hat auch zu mir gesagt, dass ich verrückt bin." Eigentlich müsste Kimmy, wie sonst auch immer, das kleine Fünkchen Eifersucht in sich aufflammen spüren, aber diesmal merkt sie nur eine Art Erleichterung, dass sie keine übertrieben besorgte Freundin ist. „Und Jeremy passt auf mich auf, wenn wir auf dem Rückweg sind." Ein Lächeln huscht auf Kimmys Lippen, als sie sich sanft von ihrem Freund drückt.

„Dann gibst du ihm ja gleich mal eine Mamutaufgabe." Ein zögerliches Lächeln huscht nun auch auf Jez Lippen, als er seiner Freundin noch einmal prüfend in die Augen sieht.

***

Auch wenn es schon kurz vor halb zwölf und Kimmy todmüde ist, kann sie nicht schlafen. Das ungute Gefühl, dass Jez alleine nach Köln fahren will, lässt sie einfach keine Ruhe finden. Zwar hat sie mit Jez noch einmal - nachdem sie nach Hause gelaufen sind - über sein Vorhaben gesprochen, sodass Kimmy auch Jez Perspektive verstehen kann, aber trotzdem hat er ihr ihre Angst nicht ausreden können.

Kimmy dreht sich auf den Bauch und angelt sich die kleine Kuschelmöwe, die einmal Lennard gehört hat, von ihrem Bettpfosten. Erst vor ein paar Tagen hat Jez - der, wie Lennard früher war, auch Fan des Handballvereins SG Flensburg-Handewitt ist - die Möwe zwischen den Händen gedreht und sich von Kimmy von Lennard erzählen lasse. Zum ersten Mal hatte Kimmy das Gefühl, jemanden wirklich alle ihre Gefühle, die sie verspürt hat, als der Unfall war und bei Lennard Beerdigung, erzählen zu können. Ohne Mitleid ausgesprochen zu bekommen. Sie hatte einfach nur eine Person bei sich, die sie in den Arm genommen und beruhigt hat, als die Erinnerungen die Tränen in ihre Augen getrieben hat.

Ein wenig ungeschickt dreht Kimmy sich unter ihrer Decke auf den Rücken und sieht im Dämmerlicht auf das helle Kuscheltier. Ob Lennard Jez vielleicht von seinem Vorhaben abbringen könnte? Leise seufzt Kimmy und lässt sich die Möwe auf die Brust sinken. Sie hat wirklich Angst um Jez. Angst, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, mehrere Stunden zwischen abertausenden LKWs auf der Autobahn zu fahren. Weil er sich in den Kopf gesetzt hat, von Köln wieder loszufahren, wenn es noch dunkel ist. Weil er nicht einsehen will, dass er dieses Versprechen brechen kann, ohne damit rechnen zu müssen, dass Jeremy sauer auf ihn ist. Einen Moment sieht Kimmy an die Decke, dann dreht sie sich auf die Seite, zieht die Knie an und drückt das kleine Kuscheltierchen an sich, bevor sie die Augen schließt und versucht, einfach zu schlafen.

***

Es ist schon halb eins nachts durch, als Jez sein Handy auf den Nachttisch legt, sich auf die andere Seite dreht und die Augen schließt. Die Decke liegt nur über seinen Beinen, aber dennoch strampelt Jez sie weg, so warm ist es auch jetzt noch. Einen Moment schließt Jez die Augen und schiebt sich die Hände unter die Wange, öffnet die Augen aber doch wieder und sieht auf die Wand vor sich. Er hat bis eben noch mit Niklas telefoniert. Nachdem Jez mit Emelina an der Sporthalle telefoniert hat, hat er gleich noch Niklas angerufen. Zwar war er auch nicht gleich begeistert, hat aber sofort eingewilligt, ihm zu helfen.

Einen Moment sieht Jez noch an die Wand, dann dreht er sich auf den Rücken. Sein Blick fällt durch das Glas des Dachfensters. Deutlich kann er die Wolken am Himmel erkennen, die hoffentlich ein bisschen dafür sorgen, dass die Temperaturen ein wenig sinken. Ein Seufzen bahnt sich, ähnlich wie ein unüberlegtes Wort, den Weg über seine Lippen. Kimmys Reaktion auf seinen Plan beschäftigt ihn immer noch. Er will nicht, dass sie sich Sorgen um ihn macht. Natürlich kann er irgendwie verstehen, dass Kimmy Angst hat. Als Motorradfahrer ziehst du gegen ein Auto immer den Kürzeren. Aber warum sollte ausgerechnet ihm das passieren? Langsam setzt Jez sich auf und greift nach seiner Decke, bevor er sich wieder zurück in sein Kissen sinken lässt. Warum sollte ausgerechnet ihm das passieren? Aber... Warum ist es dann ausgerechnet Lennard passiert? Dass er wegen einem Verkehrsunfall sterben musste? Jez schließt die Augen, als er sich auf die Seite rollt. Er verspürt gerade - wie auch vor ein paar Stunden, als Kimmy ihm gesagt hat, dass er seinen Bruder wenigstens noch sehen kann - den Drang, sie in den Arm zu nehmen, was natürlich nicht geht, weil sie jetzt in ihrem eigenen Bett liegt und hoffentlich schläft.

Feelings allowed - also for boys!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt