Kapitel 11: 10. Juli 2014 Donnerstag

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Nachdenklich sieht Kimmy aus dem Fenster. Herr Renner – ihr Mathelehrer – versucht gerade, die Klasse zu motivieren und ihnen zu erklären, wie toll Mathe doch ist. Nur schwer kann Kimmy sich ein Seufzen unterdrücken, als sie ihren Blick von den großen, grün belaubten Blättern vor dem Fenster abwendet und ihn durch das Klassenzimmer wandern lässt. Jez sitzt vor ihr – neben Max – und stützt den Kopf auf die linke Hand. Gekonnt verbirgt er hinter seiner Hand seine geschlossenen Augen. Kimmy legt den Kopf schlief und mustert ihren Freund einen Moment. Eigentlich weiß sie, dass er eigentlich nirgends außer in einem Bett richtig schlafen kann. Um sich ein weiteres Seufzen zu unterdrücken, senkt Kimmy den Blick auf das vollgeschriebene Blatt vor sich. Bestimmt ist Jez jetzt so müde, weil er - auch nachdem er kurz vor halb elf nach Hause gegangen ist - nicht geschlafen hat und sich stattdessen den Kopf über Jeremy und vielleicht auch über ihre Angst zerbrochen hat...

Schnell hebt Kimmy den Blick und sieht kurz zu Herr Renner. Eigentlich ist er ein sehr netter und aufgeschlossener Lehrer, der oft auf Schüler zugeht, wenn er merkt, dass es ihnen nicht gut geht, aber sobald es um seinen Matheunterricht geht, kann er ganz schön streng werden. Es hasst jede Art von Störung. Ob jemand redet oder schläft – wobei das Schlafen ja eigentlich besser ist, weil man dann den Mund hält – ist ihm relativ egal, der Betroffene wird mit Nachsitzen bestraft. Mit einem leisen Ratschen reißt Kimmy ein Blatt von ihrem Block und knüllt es zusammen, bevor sie sicherheitshalber noch einmal zu Herr Renner herübersieht und dann versucht, Jez unauffällig mit dem Papierball abzuwerfen. Statt Jez trifft Kimmy jedoch Max. Erst reagiert er nicht, dreht aber nach einigen Sekunden den Kopf dann doch nach hinten und sieht erst Betty fragend an, die aber nur die Schultern hochzieht und mit dem Daumen auf Kimmy neben sich zeigt. Mit dem Kopf deutet Kimmy auf Jez, bevor ihr Blick, instinktiv irgendwie, wieder zu Herr Renner wandert. Deshalb bekommt sie auch nur aus dem Augenwinkel mit, wie Max Jez sanft anrempelt und dieser verschlafen, fragend blinzelt die Augen öffnet.

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Es ist kurz vor halb sechs, als Kimmy das Schulhaus endlich verlässt, sich von Betty verabschiedet und zusammen mit Jez quer über den Schulhof zur Ortenauhalle schlendert. Beide haben in ein bisschen mehr als einer halben Stunde Training.

„Jez?" Kimmy bleibt stehen und zwingt Jez mehr oder weniger auch dazu, indem sie seine Hand nicht loslässt.

„Ja?" Kimmy sieht ihrem Freund von unten in die Augen, als er sich zu ihr wendet und sie fragend ansieht.

„Sagst du mir noch, wann du wieder heim kommen willst?" Einen Moment – so hat Kimmy jedenfalls das Gefühl – kann sie eine Art Überraschtheit in Jez Augen erkennen.

„Komm mit..." Kimmy will schon fragend den Kopf schief legen, kommt aber nicht mehr dazu, weil Jez sich umdreht und sie bis zu einer der Bänke vor dem Eingang der Halle führt. Er nimmt ihr ihre Tasche ab. „Warte kurz, okay?" Kimmy will protestieren, hält es aber bewusst zurück. Irgendwie weiß sie, dass Jez sie damit nicht ärgern will. Statt zu protestieren, legt Kimmy den Kopf schief und sieht ihrem Freund hinterher, der gerade in der Halle verschwindet. Dann huscht ein sanftes Lächeln über ihre Lippen, bevor sie sachte den Kopf schüttelt und sich auf die von der Sonne aufgewärmte, eiserne Bank fallen lässt. Einen Moment lässt Kimmy ihren Blick über den menschenleeren Schulhof wandern, dann nimmt sie aus dem Augenwinkel wahr, wie Jez wieder aus der Halle heraus kommt. Er hat sowohl seine als auch ihre Tasche in die Umkleiden gebracht. Lächelnd blinzelt Kimmy, von der Sonne geblendet, ihrem Freund entgegen, als er auf sie zukommt und sich neben ihr auf der Bank niederlässt. Kimmy legt den Kopf schief, sieht zu ihrem Freund hinauf und legt dann beide Beine über seinen Schoß, bevor sie ein Stück näher an ihn heran rutscht und ihre Hände in Jez Nacken ineinander verschränkt. Sanft legt Jez eine Hand auf Kimmys Taille, bevor er sich zu ihr lehnt und ihr einen kurzen, aber dennoch nicht wenig kribbeligen Kuss auf die Lippen gibt. „Ich fahr' morgen, gleich nach der Schule zu Jeremy..." Kimmy streicht ihrem Freund langsam durch sein dickes, weiches Haar.

„Direkt?" Fragend sieht sie ihm in die grünen Augen. Ein Lächeln huscht bei Kimmys kritischer Frage über Jez Lippen.

„Ich geh' kurz nach Hause. Mama muss halb zwei zu ihrer Schicht. Ich hab ihr gesagt, dass ich Freitag auf Samstag bei Max schlafe, weil wir mit den Jungs noch was machen - angeblich - mal gucken, wann ich in Köln ankomme. Vielleicht treffe ich mich noch kurz mit Emelina..." Beinahe hat Kimmy das Gefühl, dass in Jez Augen einen Moment eine klitzekleine Unsicherheit funkelt, als er den Namen seiner besten Freundin erwähnt.

„Sagst du Emelina von mir, dass sie dich bitte zusammenscheißen soll, weil du alleine mit dem Motorrad nach Köln gefahren bist?" Der Ansatz eines Grinsens erscheint auf Jez Lippen.

„Das würde sie auch machen, ohne dass ich es ihr von dir sagen müsste, aber ich richte es ihr trotzdem aus..." Der Ansatz von Jez' Grinsen breitet sich jetzt auch auf Kimmys Lippen aus.

„Und Samstag kommst du wieder?" Der Funken Freude verschwindet wie auf einen Schlag aus Jez Gesicht. Eigentlich will Kimmy ja nicht, dass Jez sich so oft Gedanken um seinen kleinen Bruder macht und sich selbst Vorwürfe macht, warum er ihn nicht gleich mit hierher genommen hat. Aber sie haben beide bald Training und die Wahrscheinlichkeit, dass Jez sie heute Abend noch einmal unangemeldet nach dem Training besuchen kommt, um ihr zu sagen, wann genau er wieder in Fautenbach sein will, schätzt Kimmy – da ihre Mutter zwei Tage frei hat und Jez davon weiß – sehr gering ein.

„Ja..." Jez streicht Kimmy eine Strähne, die ihr der starke Wind immer wieder ins Gesicht weht, hinter das Ohr. Eigentlich etwas, was wohl kaum ein Mädchen mag, aber andererseits auch wieder liebt, sobald es dieser eine Junge ist, der mit diese kleine, liebevolle Geste seine Zuneigung zeigt. „Mal sehen, wann wir losfahren. Ich denke mal nicht, dass wir so ankommen, dass Mama noch zu Hause ist. Aber ich glaube, es ist sowieso besser, wenn sie von der Aktion erst in Nachhinein mitbekommt..." Einen Moment sieht Jez Kimmy in die Augen. „Und ja, du brauchst mir jetzt nicht sagen, dass ich dir, Emelina und Mama keinen Gefallen damit tue." Kimmy legt den Kopf schief und mustert ihren Freund einen Moment.

„Tu ich doch gar nicht." Einen Moment mustert sie ihren Freund noch, dann sieht sie ihm in die Augen. „Ich finde es zwar immer noch nicht gut, aber ich freue mich schon darauf, wenn du wieder bei mir bist."

***

Müde schließt Jez die Augen, bevor er sein Handy an das andere Ohr hält und sich auf die Seite dreht. Bis vor einer halben Stunde hat er noch mit Jeremy telefoniert und ihm das erste Mal richtig gesagt, wie und wann er ihn abholen wird. Jetzt telefoniert Jez, wie eigentlich jeden Abend, mit Emelina.

„Ich freu mich schon, dich wieder zu sehen..." Ein Lächeln huscht über Jez Lippen. Er freut sich natürlich auch, Emelina wieder zu sehen. Aber irgendwie hat er auch ein wenig ein mulmiges Gefühl. Zwar hat Kimmy ihm gesagt, dass sie nicht mehr eifersüchtig auf Emelina ist, aber Jez will nicht, dass sie wieder eifersüchtig wird. Weil er Dinge macht, die er mit Emelina schon immer macht – und wenn es nur Kleinigkeiten sind, wie sie beispielsweise in den Arm zu nehmen.

„Ich freu mich auch..." murmelt Jez leise und seufzt dann. Fast immer, wenn er mit Emelina telefoniert, verspürt er irgendwie das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden. Nicht direkt in einem Albtraum – dafür erlebt er hier, mit Kimmy zusammen, viel zu viele schöne Momente – aber ein richtig schöner Traum ist es auch nicht. Nicht, dass er sich wünscht, seine Eltern würden wieder zusammenleben. Er selbst könnte es sich nicht mehr vorstellen, bei seinem Vater zu wohnen. Dafür sind in den letzten 5 Monaten einfach viel zu viele negative Dinge vorgefallen. Aber einfach, dass Jeremy bei ihm und seiner Mutter wäre. Dass er manchmal zu seinen Freunden nach Köln fahren könnte, ohne das Gefühl zu haben, dass seine Mutter sich schuldig dafür fühlt, dass er sie nur noch so selten sieht.

„Dir geht gerade irgendwas durch den Kopf, hab ich recht?" Jez ein weiteres Mal seufzt leise.

„Naja...", murmelt er nur. Manchmal wünscht er sich wirklich, Emelina würde ihn nicht so in- und auswendig kennen. Die Sache mit Kimmy, als er noch Stress mit ihr hatte und sie noch nicht zusammen waren, hat Emelina ihm auch angemerkt, Jez hat ihr jedoch immer gesagt, dass ihn einfach die gesamte Umstellung ein wenig fertig macht. „Manchmal wünsche ich mir schon irgendwie, dass alles irgendwie anders wäre..." Einen Moment zögert Jez. „Nicht einmal, dass ich noch in Köln wohnen würde. Aber dass die ganzen komplizierten Dinge einfach weg sind..."

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