Kapitel 16 - Wenn die Sonne untergeht...

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Hicks lag auf dem feuchten Boden. Die Schmerzen in seiner Schulter waren mittlerweile ins unermessliche gestiegen. Er war sich inzwischen sicher, dass die Wunde entzündet war. Auch sein aufgeschlitzter Brustkorb ließ ihn Höllenqualen durchleiden, sodass er am liebsten geweint hätte. Doch all das war nicht zu vergleichen mit dem Gefühl in seiner Brust, welches ihn fast die Luft zum Atmen nahm. Denn jetzt wo er wusste was Viggos Plan war, hatte er schreckliche Angst, dass Astrid hierher kommen würde. Sie würde ins offene Messer laufen. Er spürte einen Hass in seinem Herzen brennen, wie er ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Es schien als würde diese Angst, dieser ganze Schmerz, dieser Hass, ihn verändern und bis in jede Faser seines Körpers vordringen. Er sah Viggo und Jason vor sich, wie sie ihm ihren Plan erklärt hatten. Seine Drohung, dass er sie eigenhändig dafür büßen lassen würde, war ernst gemeint. Todernst.
Doch dafür musste er erstmal einmal lebendig hier rauskommen. Was leichter gesagt war, als getan. Er schaute sich nach etwas Brauchbarem um. Und er wurde fündig. Denn Hicks wäre nicht Hicks, wenn er nicht einen Plan hätte. Er musste nur den richtigen Zeitpunkt abwarten.

Langsam näherte sich der Tag dem Ende zu. Es war nichts besonderes mehr passiert. Das Einzige was heute nicht kam, war sein Essen. Sie gaben ihm zwar nicht viel, aber wenigstens immer etwas. Nicht so heute. Hicks Magen knurrte laut. Er hatte noch nie Hunger und Durst leiden müssen. Doch das hier war die Gegenwart. Das hier und jetzt. Zeiten ändern sich. Und damit auch die Menschen. Hicks seufzte auf, als er daran dachte, was sein 15-jähriges Ich gesagt hätte, wenn es wüsste, dass er gerade den Wunsch verspürte einen Menschen umzubringen.
Auf einmal waren Schritte zu hören. Viele Schritte. Kaum einen Moment später quietschte die Tür und vier Wachen betraten Hicks Zelle.
,,Aufstehen und mitkommen!",sagte ein großer, breitschultiger nur. Als Hicks aufstand, hatte er bereits die dumpfe Ahnung, wo es hingehen sollte. Einer der Wachen band Hicks die Hände auf dem Rücken zusammen. Er machte sie zwar sehr fest, dafür aber nicht besonders gründlich. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf Hicks Gesicht und er begann seine Arbeit.

Sie verließen die Kellergewölbe und begannen mit dem Aufstieg in höhere Abteile der Festung. Hicks atmete die frischere Luft gierig ein. Er wusste, dass er Viggo gleich wiedersehen würde. Es war bereits vier Tage her, dass er ihm den Plan erklärt hatte. Sie gingen gerade einen der oberen Gänge entlang, als Hicks stolperte. Durch die gefesselten Hände, knallte er in einen seiner Bewacher und schlug mit voller Härte mit seiner verletzten Schulter auf dem Boden auf. Schmerz explodierte in seiner Schulter und die ohnehin schon empfindliche Wunde öffnete sich augenblicklich. Der junge Mann schrie auf. Doch sofort wurde er hochgezerrt.
,,Was machst du da, Bürschchen? Spiel keine Spielchen mit uns!",schnauze ihn einer der Drachenjäger an. Sie gingen weiter, bis zu dem riesigen Portal, durch welches Hicks vor knapp einer Woche das erste mal in Viggos Festung gelangt war. Die Türen wurden aufgezogen und Hicks spürte einen rauen Wind auf seinem Gesicht.
Wie sehr hatte er so etwas vermisst!
Das Gefühl zu haben zu leben. Er atmete einmal tief durch. Sie gingen hinaus, und augenblicklich blendete ihn die untergehende Sonne. Er sah absolut gar nichts. Nachdem er tagelang nur in der Dunkelheit seiner Zelle gesessen hatte, mit nichts als Schmerzen zur Ablenkung, war der Sonnenschein auf seinem Gesicht wie der Himmel auf Erden. Er ging einfach weiter, um nicht erneut hinzufallen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das grelle Licht und er erkannte was sich vor ihm befand. Aus den erst nur verschwommenen Umrissen, konnte man nun ganz klar ein großes Podest erkennen. Ein breiter Durchgang war bis dorthin geschaffen worden von der Menge, die den Platz bevölkerte. Gegenüber des Podests waren viele erhöhte Sitze angebracht, ebenfalls auf so etwas wie einem Podest. Rasch zählte Hicks die Sitze. Es waren 12. Die waren dann wohl für die Verbündeten von Viggo gedacht. Und einer für Viggo selbst. Überall waren Menschen aus dem Dorf versammelt, um zuzuschauen. Kinder, Alte, Frauen, Männer.
Die Sonne küsste bereits den Horizont, als Hicks noch immer umringt von den vier Wachen, langsam auf das Podest zuschritt, von derem Mast bereits ein Strick hing, der nur auf ihn zu warten schien.

Astrid kniff die Augen zusammen. Im Licht der Sonne, die sich auf dem endlosen Meer spiegelte, erkannte sie etwas. Ein großer Berg, der noch nicht ganz zu erkennen war, da er noch weit entfernt war, erschien am Horizont. ,,Dort vorne!",schrie nun auch Rotzbakke.
,,Das ist Viggos Insel!",rief Heidrun, die sich zu Windfang heruntergebeugt hatte, um dem Wind weniger Widerstand zu leisten.
Astrid tat es ihr gleich und spornte Sturmpfeil an, schneller zu fliegen. Sie musste zu Hicks. Sie durften nicht zögern. Er war für sie wie die Sonne. Sie war wie der Mond. Sie ergänzten sich gegenseitig. Doch nun drohte die Sonne, ihr Hicks, unterzugehen. Wenn ihre Sonne untergehen würde, wenn sie nie wieder scheinen würde, dann würde es für immer Nacht in Astrids Herzen bleiben. Dann würde es nur Dunkelheit in ihrem Leben geben. Nur Schatten. Er gab ihr die Kraft zu leben. Weiter zu leben. Wenn ihr Licht des Lebens versiegte, dann wollte Astrid nicht weiter existieren. Die Sonne und der Mond. Zwei Unbändige, zwei Liebende. Wie sie und Hicks. Das würden sie jedenfalls sein, sobald Astrid es ihm gesagt hatte. Die junge Frau schüttelte ihren Kopf. Eine Strähne löste sich aus ihrem Zopf. Mit Tränen in den Augen strich die Wikingerin sich das blonde Haar zurück. Falls es dazu kam. Doch es durfte noch nicht zu spät sein. Sie mussten einfach rechtzeitig kommen. Sie mussten.

Don't let me aloneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt