Kapitel 22 - Der Auftrag

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Hicks probierte den Steg wiederzufinden, wo er auch gelandet war, doch irgendwie rannte er in die falsche Richtung. Gerade wollte er sein Tempo verschnellern, einfach nur, weil er so einen klaren Kopf bekam, als ein drittes Mal eine vertraute Stimme ihn zusammenzucken ließ.
,,Hicks. Wohin so eilig?"
Abrupt blieb Hicks stehen, was ihm misslang, da er bis eben noch in Höstgeschwindigkeit gerannt war. Er schlitterte ein paar Meter auf seinen zwei Füßen weiter, bevor er auf dem Waldboden stehen blieb.
,,Rotzbakke?",japste er überrascht.
,,Jap genau der bin ich nämlich nicht. Eigentlich wollte ich ja jemand anderen als Körper haben, aber diesen dicken Freund von dir wollte ich nicht und diesen anderen kriegt man nur in Doppelpack mit seiner nicht minder verrückten Schwester. Und als Mädchen kann ich ja auch nicht aufftauchen. Also hab ich den Holzkopf hier genommen."
Rotzbakke trat von dem Baum, an dem er gelehnt hatte weg und kam auf Hicks zu.
,,Also um auf meine Frage zurückzukommen. Wohin so eilig unterwegs?"
Hicks anwortete: ,,Zurück zum Steg. Ich möchte nochmal mit Odin sprechen."
,,Dann werde ich dich begleiten.",sagte sein bester Freund sofort.
'Halt warte, dass war nicht sein bester Freund Rotzbakke, sondern noch irgendein Gott.'
Dieser drehte nun den Kopf zu Hicks und lächelte ihn spöttisch an, während sie nebeneinander in Richtung Strand gingen.
Natürlich hatte der Gott seine Gedanken gelesen. Hicks stöhnte innerlich auf.
,,Stimmt Hicks, ich habe deine Gedanken erraten. Und um mich endlich vorzustellen, ich bin Forseti, Gott für Recht und Gesetz und  Oberster Richter Asgards, wo ich über Götter und Menschen richte."
,,Okay...ich freue mich dich kennenzulernen, aber wieso willst du mit mir sprechen?",fragte Hicks und runzelte die Stirn. ,,Habe ich irgendwas falsch gemacht und du willst mich bestrafen?"
,,Wie kommst du darauf, dass ich mit dir sprechen möchte?"
,,Naja...",meinte Hicks. ,,Wieso solltest du sonst auf dieser Insel hier rumhängen?"
,,Du hast eine erstaunliche Beobachtungsgabe und bist klug Hicks. Das hatte Odin bereits angekündigt, doch du musst mir verzeihen, denn viele Menschen die ich bisher kennengelernt habe, waren nicht sonderlich intelligent. Naja wären sie es, dann würden sie wahrscheinlich auch nicht dauernd in Situationen stecken, wo ein Gott sie bestrafen müsste."
Forseti lächelte dem jungen Wikinger zu. ,,Aber du hast Recht Hicks. Ich bin tatsächlich heute hier, genau wie Odin und Freya, weil ich mir dir sprechen möchte. Es geht um Viggo Grimborn."
,,Du möchtest ihn bestrafen?",fragte Hicks.
,,Nein. Ich möchte ihn nicht bestrafen. Ich möchte, dass du ihn bestrafst."
Daraufhin folgte Stille.
Schweigend liefen die beiden Männer nebeneinander her, bis Hicks schließlich stehen blieb.
,,Wie?",fragte er nur.
Forseti, in der Gestalt Rotzbakkes drehte sich zu dem jungen Drachenreiter um.
,,Indem du ihn tötest. Ich weiß Hicks, dass ist keine einfache Bitte. Oder eher gesagt ein Auftrag. Aber er gehört gerichtet und zwar aufs Schwerste. Der neunte Kreis der Hölle ist für ihn vorgesehen, genauso wie für seine Brüder."
Hicks blickte auf.
,,Wieso ich?",fragte er. Er wollte es nicht aussprechen; die Gedanken, die sich in seinem Kopf bildeten, waren unschlüssig.
Natürlich hasste er die Grimbornbrüder, allen voran Viggo und er wusste genauso gut, dass Forseti mit seinem Urteil Recht sprach. Viggo hatte dazu beigetragen, dass hunderte Drachen getötet wurden, lediglich um sich finanziell zu bereichern.
Doch konnte Hicks jemanden töten?
Er erschauderte nun bei diesem Gedanken, obgleich er bis vor einigen Stunden noch den wütenden Drang, das fiebrige Bedürfnis gespürt hatte, den Grimborns ein Ende zu bereiten.
Waren diese Gefühle alle nur aus purer Rache entstanden?
Ohnezahns Anlitz und das der anderen Drachen blitzte in seinem Inneren auf. Drachen die er töten sollte, was er aber nie gemacht, nie geschafft hatte.
Aber war genau das nicht seine beste Eigenschaft?
Das er nicht töten konnte, es nicht wollte?
Natürlich konnte man Viggo nicht mit unschuldigen Drachen vergleichen, aber lief es nicht für ihn letztendlich auf dasselbe hinaus? Aufs töten?
Konnte er Viggos Leben nehmen?
Alle Rachegefühle, die er gegen Viggo Grimborn hegte, verrauchten auf einmal und übrig blieb zwar der Wunsch nach Gerechtigkeit für das, was Viggo getan hatte, aber auch eine in ihm nagende Frage:
Wieso verlangten die Götter von ihm, dass er seine Moral, nicht zu töten, verriet?
Auch wenn Hicks es nicht aussprach, so las Forseti seine Gedanken und als Hicks aufsah, wiederholte der junge Wikinger stumm seine Frage: 'Wieso ich?'
Die Antwort war kurz und schlicht. ,,Weil du ihm ebenbürtig bist."
,,Wünscht sich Odin dies auch?"
,,Nun auch unser Allvater ist besorgt über die Geschehnisse in eurem Inselreich.
Viggo ist eine Bedrohung, die über die Grenzen eures Archipels hinaus ernst zu nehmen ist. Und du bist ein guter Mann Hicks. Odin würde es wahrscheinlich nie so direkt zugeben, aber auch er wünscht sich den Tod Viggos. Auch wir Asen möchten Frieden für euch. Und du kannst diesen Frieden schaffen. Du hat es bereits einmal geschafft zwischen den Drachen und Wikingern. Du schaffst es auch ein zweites Mal."
Hicks atmete hörbar aus und ließ seinen Blick schweifen. Sie hatten den Rand des Waldes erreicht und standen am Strand. Weit hinten konnte man die Gestalt Odins erkennen, der noch immer an dem Steg stand.
,,Ich weiß nicht, ob ich soetwas kann. Ein Leben zu nehmen." Hicks musste es laut aussprechen und schaute nun seinem Gegenüber in die Augen.
,,All die Zeit in Gefangenschaft habe ich mir ein Messer herbeigewünscht, mit dem ich Viggo die Kehle durchschneiden konnte, doch jetzt...ich weiß, er hat es verdient...aber ich konnte noch nie töten."
,,Und Hicks diese Eigenschaft, diese beste all deiner Eigenschaften, sollst du auch bewahren.
Du sollst für mich nicht zum Mörder werden, du sollst auch nicht über Viggo richten, das ist meine Aufgabe, du sollst dich auch nicht von deiner Rache zerfressen lassen, die dich vergessen lässt, wer du wirklich bist.
Es war wichtig, dass du das begriffen hast.
Jetzt möchtest du zwar immer noch, dass Viggo stirbt, doch der Antrieb ist nicht mehr Rache, sondern Gerechtigkeit.
Hicks, du zögerst. Du hast ein Gewissen. Der Wunsch nach Gerechtigkeit, der dem nach Rache obsiegt, zeigt deine wahre Stärke. Du hast damals, als du Ohnezahn verschont hast, ebenfalls wahre Stärke bewiesen.
Ich wünschte, es wäre dieses mal genauso und du könntest Viggos Leben verschonen. Doch das ist es leider nicht, denn Viggo ist nicht unschuldig.
Dieses Mal darfst du nicht verschonen. Dieses Mal wirst du töten müssen.
Ich weiß, du kannst es jetzt noch nicht. Und es werden noch viele Situationen kommen, wo du Viggo begegnest und ihn nicht töten wirst, weil du es noch nicht kannst. Doch irgendwann wird der Tag kommen, wo du es tust. Weil dir nichts anderes übrig bleibt oder weil du bis dahin verstanden hast, dass du kein Leben nimmst, sondern andere damit rettest."
Hicks Blick glitt über den Ozean.
,,Wirst du meinen Auftrag ausführen?",fragte ihn der Gott.
Eine kurzen Moment schwieg Hicks.
,,Ja das werde ich.",antwortete er schließlich.
,,Ich danke dir Hicks.",sagte Forseti. Die beiden Männer standen einen Moment unschlüssig da. Dann hob Forseti den Arm und zeigte gen Westen zur untergehenden Sonne. ,,Geh nun Hicks. Odin erwartet dich sicher schon."
Hicks nickte erneut und sagte: ,,Danke."
,,Wofür solltest du dich bedanken? Ich sollte mich bedanken, schließlich bin ich dir nicht als Richter erschienen, sondern als Fremder mit einer Bitte. Und du wirst sie erfüllen Hicks, dessen bin ich mir sicher."
,,Ich werde alles in meiner Macht stehende tun Forseti."
,,Nun, dann gibt es keinen Grund mehr, wieso ich dich weiter aufhalten sollte. Leb wohl Hicks, vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder."
,,Leb wohl.",verabschiedete sich Hicks und drehte sich um und ging den Strand entlang. Seine nackten Füße fühlten den weichen Sand zwischen ihren Zehen. Hicks seufzte und rannte los. Wellen umspülten die nassen Abdrücke, die er hinterließ. Keine Prothese die ihn hinderte. Das würde er vermissen. Ungehindert laufen zu können. Seine Beine zu spüren. Ein Gefühl der Freiheit überkam ihn, als er den Sandstrand entlang auf die Gestalt seines Vaters zulief und die Rotzbakkes hinter sich ließ.

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