16. Kapitel

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Hailey

Ich muss immer wieder an diesem Abend denken. Wahrscheinlich weil das der Abend war, an dem mir aufgegangen ist, dass mein Leben doch nicht so toll ist, wie ich dachte.

„Ja das kenne ich", antworte ich auf Londons Frage, „wir denken doch als Kind, dass unsere Eltern Helden sind und alles können. Der Tag an dem man herausfindet, dass sie auch nur Menschen mit Fehlern und Problemen sind, kommt schneller als gedacht."

London blickt mich nachdenklich an und versucht die stumme Botschaft zu entschlüsseln. Aber um das zu wissen, kennt er mein Altes Ich zu schlecht, die alte Hailey.

„Ich glaube, ich habe meine Eltern nie als Helden angesehen. Dazu haben sie uns zu oft alleine gelassen", sagt London und ich höre Verbitterung aus seiner Stimme.

„Mein Vater war kein gutes Vater und trotzdem habe ich, wie meine Mutter, immer geglaubt, dass er die Dinge tut, die er tut, weil er ... uns liebt." Ich stoppe und beiße auf meine Lippe. Eigentlich habe ich keine Lust über meinen Vater zu reden.
„Schlussendlich habe ich aber irgendwann eingesehen, dass er zu viel falsch gemacht. Und das konnte ich irgendwann nicht mehr ignorieren und konnte weiterhin nicht mehr perfekte Familie spielen, weil wir das nicht waren", sage ich vage und lächle London leicht zu. Ich hoffe er bohrt nicht nach.
„Dann haben wir was gemeinsam. Willst du was trinken?", fragt er und lässt das Thema auf sich beruhen, wofür ich ihm unendlich dankbar bin.

„Ja gerne, ein Wasser", sage ich und schnappe mir mein Handy so lange wie London das zutrinken holt. Nate hat noch nicht geantwortet, jedoch hat mir Tara geschrieben.

Ich bin jetzt schon schlafen gegangen. Hoffentlich geht es deine Freundin gut. Wir sehen uns morgen!

Ich schicke ihr schnell ein Okay, gute Nacht! und packe mein Handy wieder weg. London gibt mir das Glas und ich trinke einen Schluck.
„Meinst du das dauert noch lange?", frage ich auf Sydney bezogen.
„Keine Ahnung. Das sie sich viel zu erzählen haben ist doch ein gutes Zeichen, oder?", vermutet London. Ich nicke.

„Ja, es wird schon alles gut werden", sage ich und lächle ihn ermunternd an.

Mein Handy fängt in diesem Moment an zu klingel und ich gehe, mit einem entschuldigen Blick in Londons Richtung, dran.

„Hailey! Hey, hier ist Nate. Ich habe gerade erst deine Nachricht gelesen und mach mich jetzt auf den Weg", sagt er und hört sich so an, als wäre er gerade gelaufen.
„Okay. Sydney wird es bestimmt gut finden, wenn du hier bist", erwidere ich.

„Ja, ich beeile mich. Geht es ihr soweit gut? Das muss ein Schock für sie sein", sagt Nate und ich höre die Besorgnis aus seiner Stimme.
„Sydney ist stark. Falls sie uns braucht sind wir da."

„Ja, Sydney ist stark, wahrscheinlich die stärkste Person die ich kenne. Ich fahr jetzt Auto. Bis gleich!"
Nachdem wir aufgelegt haben und ich London erzählt habe, dass Nate kommt, dauert es nicht lange, bis Nate auftaucht. London und ich haben uns bis dahin unterhalten.

Nate sieht ziemlich fertig aus.
„Ich war bei meiner Mutter und habe mein Handy ausgeschaltet. Heute ging es ihr überhaupt nicht gut und ich musste mir die Zeit nehmen, um für sie da zu sein", erklärt er kurz und läuft, nachdem er seine Sachen abgelegt hat, nach oben zu Sydney.
„Sollen wir auch zu ihnen gehen?", frage ich London. Dieser nickt.

Nachdem wir uns versichert haben, dass es Sydney gut geht und sie uns nicht braucht, ziehe ich gerade meinen Mantel an, als London mich fragt: „Wollen wir noch in eine Bar gehen und etwas trinken?"

Ich sehe ihn an und lächle. „Gerne."

Hailey

Vor über zehn Jahren

„Vielen Dank für die Geschenke", sagt Tara und ich lache mit den anderen. Sie hat wirklich tolle Sachen bekommen und ich freue mich für sie.

Wir sitzen auf dem Boden in Tara's Zimmer und haben vor gleich einen Film zu gucken. Eine Freundin von mir, Sarah, setzt mich neben mich und lächelt mich an.
„Du hast doch in zwei Wochen Geburtstag oder?", fragt sie mich, während Tara die DVD in den DVD-Spieler einlegt.
„Ja und ich werde mit allen meinen Freunden feiern. Ihr werdet noch Einladungen bekommen", erzähle ich eifrig und erzähle ihr ebenfalls von meinen Plänen für meinen Geburtstagsfeier. Dann werde ich endlich neun Jahre alt.

„Okay alle ruhig sein, der Film beginnt", ruft Tara und setzt sich neben mich und Sarah. Der Film beginnt.

Jedoch kommen wir nicht weit. Nach ein paar Minuten fliegt die Tür zu Tara's Zimmer auf und ich drehe mich erschreckt um. Mein Vater steht im Türrahmen und es ist das erste Mal, dass ich ihn wütend erlebe. Wortlos kommt er auf mich zu, packt mich am Arm und reißt mich nach oben.
„Es tut – tut mir Leid", stammle ich erschrocken.

Mein Vater beachtet meine Entschuldigung nicht, sondern zieht mich durch den Flur. Und ich mache eine Fehler. Ich versuche mich loszureißen und zu Tara zu laufen, die mir nachgelaufen ist und ein paar Meter entfernt steht.
Allerdings ist der Griff meines Vaters zu fest. Er dreht sich um und funkelt mich wüthend an.
„Du bleibst hier, hast du mich verstanden", knurrt er und im nächsten Moment merke ich, wie meine Wange brennt. Er hat mich geschlagen.
Ich senke den Blick und Tränen sammeln sich in meinen Augen.
„Mama, mach doch was", schreit Tara, aber ihre Mutter reagiert nicht. Ich blicke zurück und sehe, wie sie die anderen Mädchen in Tara's Zimmer schiebt und ein letztes Mal auf mich zurück sieht. Verängstigt und schuldig. Und da weiß ich, dass sie meinen Vater angerufen hat.

Mein Vater zieht mich weiter und mittlerweile schmerzt mein Arm. Und meine Wange.
Vor dem Haus lässt er mich mit Schwung los, sodass ich nach hinten auf den Schotter falle. Kleine Kieselsteine bohren sich schmerzhaft in meine Hände.
„Wenn du noch einmal weg läufst, dann wird das noch schlimmere Konsequenzen haben, verstanden?"
Damit dreht er sich um, läuft auf den Wagen zu und steigt ein. Er kurbelt das Fenster runter und schreit mir zu: „Kommst du jetzt? Beeile dich gefälligst!"

Verängstigt und panisch springe ich auf und laufe zum Auto, wo der Fahrer mir die Tür offen hält. Mein Vater würdigt mich eines letzten abfälligen Blick.
„Kein Wort zu deiner Mutter. Sie würde sich nur unnötig aufregen und das ist das letzte, was sie in ihren Zustand gebrauchen kann", befielt er und ich nicke, während der Wagen anrollt.
Ich blicke auf Tara's Haus zurück und ich wünschte, dass ich eine andere Familie hätte. Jede Familie ist besser als meine.

Forget meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt