Kapitel 5

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„Ich erzähle dir jetzt von meinem Traum Oma. Den träume ich ein Mal im Jahr, immer das gleiche aber ich kann mir keinen Reim draus machen, vielleicht kannst du mir sagen, was er bedeutet." Oma nickte nur kurz und sah mich entschlossen an.
Ich räusperte mich und fuhr fort.

"Also in meinem Traum bin ich noch das kleine Mädchen von damals, im rosa Kleid, welches du mir zum Geburtstag geschenkt hattest, weißt Du noch?"
„Ja ich erinnere mich", sie nickte zur Bestätigung. „Erzähl weiter."
„Nun, ich bin bei den Höhlen, der Wind ist sehr stark und kalt. Dann gehe ich in die Höhle rein. Dort ist es windstill und sehr dunkel. Es ist merkwürdig, denn ich spüre keine Furcht, vielmehr eine freudige Erwartung. Ich gehe weiter und sehe ein Licht  am Ende der Tunnelartigen Höhle. Ich gehe weiter zum Licht und langsam erkenne ich einen breiten, weit in die Ferne führenden Pfad, der von Kirschblüten übersäht ist. Man kann nicht einmal erkennen, was unter den Blüten ist und sie fallen ununterbrochen herab. An beiden Rändern des Pfades reihen sich dicht aneinander Kirschbäume auf. Sie sind gigantisch. Ich laufe an den ersten beiden vorbei, um zu sehen was zwischen den Bäumen ist. Die Kirschblüten fühlen sich wie weiche, kühle Federn, an meinen nackten Fußsohlen an. Ich sehe zwischen diesen riesigen Bäumen eine grüne Wiese und weitere Kirschbäume, die nicht mehr so groß und gleich aussehen. Als hätte jemand sich eine riesige Landschaft gekauft nur um sie vollständig mit Kirschbäumen zu bepflanzen und nichts Anderem. Ich frage mich wie weit der Pfad führt und was am Ende ist, also gehe ich geradeaus. Aus dem Augenwinkel sehe ich links von mir einen Schatten. Jemand versteckt sich hinter den Bäumen. Ich rufe zu dem Schatten, er solle rauskommen, aber er bewegt sich nicht. Ich bin einfach nur neugierig, was sich wohl dort verstecken mag. Nach etwa zehn Sekunden kommt hinter dem Baum eine Gestalt zum Vorschein. Es ist ein Junge, ungefähr in meinem Alter. Seine grünen Augen stechen heraus wie kleine Smaragde. Sie haben etwas wildes, ungezähmtes und gleichzeitig unschuldiges in sich.  Seine Kleidung ist  schwarz mit eingenähten Ketten und Riemen an der Hose. Die Haare sind sehr dunkel, lässig fallend und passen perfekt zu seiner sonnengebrannten Haut.
Ich frage Ihn, wer er ist. Er sagt, es sei unwichtig und ich solle mich nur an folgendes erinnern: wenn jemand sagt: Von zwei Sonnen umzingelt, lautet die Antwort: doch keine gibt uns Leben. Ich nicke mit dem Kopf und sehe, wie Blut aus seinen Mundwinkel ihm das Kinn hinunter rinnt. Ein Pfeil ragt aus seiner Brust und ich weiß, dass er stirbt. Das Blut verteilt sich auf den Kirschblüten am Boden. Ich schreie. Dann drückt er mir etwas in die Hand und schubst mich. Ich falle in die Dunkelheit, dabei spüre ich einen stechenden Schmerz im Brustkorb und sehe ein grelles, grünes Licht. Es ist so hell, dass ich davon aufwache."

Oma hörte mir sehr aufmerksam zu, währen ich ihr das alles erzählte und nippte ab und zu an ihrem Tee. Nachdem ich fertig war, stellte sie den Tee ab und sah mir direkt in die Augen.
„Kind, verstehst du es denn nicht? Es ist etwas Schreckliches vorgefallen auf Retzia, als du dort warst. Dies hat deinen Gedächtnisverlust ausgelöst. Du träumst diesen Traum nicht zufällig, dein Verstand versucht dir etwas Wichtiges wiederzugeben, was du verloren hast. Deine Erinnerungen! Wir können morgen zusammen zu den Höhlen gehen und schauen, ob du dich an etwas erinnern kannst."
Es klang sehr logisch und zusammenhängend, was Oma sagte. Darüber habe ich auch schon spekuliert. Es war gar nicht so abwegig, dass der Traum etwas mit meiner Vergangenheit zu tun hatte. Jedes Mal, wenn ich danach aufgewacht bin, war ich mehr und mehr von der tiefen Trauer zerfressen, aber trotzdem konnte ich noch nicht so ganz dran glauben, denn wer glaubt schon an Märchen? Traum hin oder her! Ich war immer diejenige, die sich für sowas nie interessiert hatte und ausgerechnet ich sollte die Nachfahrin einer Atlanterin sein? Wobei ich immer noch nicht so ganz kapierte, was das überhaupt für eine Spezies war.
Ich sagte meiner Oma, dass ich darüber nachdenken werde und bedankte mich für das Angebot.
„Es hat mir sehr geholfen, mit jemandem darüber zu sprechen", sagte ich.
„Ich bin immer für dich da, das weißt du doch Emelie", erwiderte sie und umarmte mich. Zum Schluss gab sie mir noch einen Gute-Nacht-Kuss und ging selbst zu Bett. Ich konnte noch nicht schlafen, musste noch ein Mal das Gespräch Revue passieren lassen um zu entscheiden, ob ich jetzt an ihre Aussagen glaubte oder nicht. Mein logischer Verstand tendierte eher zu nein. Die Tatsachen sprachen aber für sich.

Also entschied ich mich kurzerhand einfach in den Wald zu spazieren und schauen, ob ich mich bei den Höhlen an etwas erinnern würde. Wieso sollte man Dinge auf morgen verschieben, die man auch sofort mitten in der Nacht, in tiefster Dunkelheit erledigen konnte? Klar hatte ich Angst aber meine Dummheit und Naivität obsiegte. Außerdem befanden wir uns in wohl dem Harmlosesten Örtchen der Welt. Was hätte da schon schief gehen können?  

Retzia - Der Blutige PfadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt