„Woher hast du dieses Messer, Emilia?", fragte mich Daren, als wir zurück zum Wald liefen.
„Es...war...ein...Geschenk...", keuchte ich. Vergebens versuchte ich dem Profisprinter hinterherzukommen. Als er merkte, dass ich schon weit hinter ihm her lief, hielt er an. Ich blieb auch stehen und hielt mich gebückt an meinen Oberschenkeln fest.
„Du... bist... zu... schnell.", brachte ich mit Mühe hervor. Ohne ein weiteres Wort kam er auf mich zu und hob mich wieder in seine Arme. Langsam fühlte ich mich wie ein unselbstständiges Prinzesschen. Jede Andere würde es traumhaft finden von einem attraktiven Mann, der auch noch ein "Vampir" ist, getragen zu werden. Ich nicht.
„Lass mich runter, ich kann alleine laufen!"
„Ich habe versucht mich deinem Tempo anzupassen aber so kommen wir nur langsam voran.", sagte er und lief los. Wenn er sich an meine Geschwindigkeit gehalten hatte, wie schnell war er dann wirklich? Das durfte ich, sofort nachdem dieser Gedanke aufkeimte, auch schon herausfinden.
„Halt dich an meinem Hals fest und drück dein Gesicht in meine Brust.", sagte er trocken.
„Macht dich das an oder warum sollte ich das tun?", fragte ich spöttisch.
„Damit du dir gleich den Hals nicht brichst."
Da ich schon zu viele verrückte Sachen an diesem Tag erlebt hatte, tat ich lieber das was er sagte. Ich kniff meine Augen zusammen und spürte sofort einen so starken Druck gegen meinen Rücken, der mir die Luft aus den Lungen presste. Ich versuchte zu schreien, dass ich nicht atmen kann aber ich konnte mein Gesicht nicht von seiner Brust weg reißen. Der Widerstand war zu stark. Als wären wir zwei Magneten. Im nächsten Augenblick spürte ich schon, dass der Widerstand nicht mehr da war. Sofort schnappte ich nach Luft.
„Was zum Teufel war das?!", rief ich laut aus.
„Wir sind da.", sagte er und stellte mich wieder auf dem Boden ab. Ich sah mich um und konnte meinen Augen nicht glauben. Wir standen direkt vor der Höhle, in welcher sich das Portal befand.
„Wie ist das möglich?", fragte ich, immer noch blinzelnd und schwer atmend. Wir hatten in nur gefühlten drei Sekunden eine Strecke von ca fünf Kilometern zurückgelegt. „Hast du uns teleportiert?"
„Nein ich renne bloß mit Schallgeschwindigkeit. Es ist eine Eigenschaft, die Wesen wie ich an sich haben. Deshalb solltest du dein Gesicht verstecken."
„Weißt du was? Das nächste Mal, wenn du eine Eigenschaft an den Tag legst, die für mich lebensgefährlich ist, erklärst du sie mir gefälligst vorher. Ich dachte ich sterbe!" Ich benahm mich wie eine Zicke. Lag wahrscheinlich daran, dass ich fast meine Großmutter verloren hätte und nun meine Schwester in den Händen dieser Werwölfe war.
„Ja, bitte Entschuldige.", sagte er. „Wird nicht mehr vorkommen."
„Äh, ja. Kein Problem." Auf seine Antwort war ich einfach nicht vorbereitet. Ich dachte er würde mich auch anmotzen aber er war ganz der Gentleman, wie auch zuvor. Er hatte mich nicht mal dafür getadelt, dass ich ihn zwei Mal mit einem Messer verletzt hatte. Er war genau das, was ich mir unter dem Begriff „ein echter Mann" vorstellte.
„Wir sollten uns beeilen.", sagte er und ging vorwärts.
„Äh, ja.", stotterte ich wieder. Was war denn nur los mit mir? Ich benahm mich wie ein kleines Mädchen, bei einem Meet and Greet mit Justin Bieber. Das sollte ich sofort wieder ablegen. Es war einfach nicht mein Stil.
„Es wird ein Wenig kribbeln, wenn wir das Portal überqueren.", sagte er und nahm mich an die Hand, als wäre ich noch ein Kind. Da ich aber Angst hatte, war es mir diesmal ganz recht.
Je tiefer wir in die Höhle hinein gingen, desto dunkler wurde es. Den vom Mondschein beleuchteten Eingang konnte man nicht mehr sehen, stellte ich fest, als ich zurück blickte. Von da an hatte ich noch mehr Angst und drückte mich instinktiv an Darens Arm. Es schien ihm nichts auszumachen. Völlig Blind bewegten wir uns vorwärts, doch Daren drosselte nicht das Tempo. Wahrscheinlich, war nur ich blind. Wer wusste denn schon was dieser Mann, der sich selbst als Wesen bezeichnete, noch für Fähigkeiten hatte.
Plötzlich erschien wie aus dem Nichts eine Wand vor uns. Es sah aus wie eine Menge von zusammengepresster Energie. Die Wand war Durchsichtig aber auch nicht. Ständig tanzten blaue Wellen in der Luft, die angaben, wo sie anfängt und wieder aufhört. Es erinnerte ein Wenig an Strom und auch an Wasser.
„Bist du bereit?" fragte er mich. Durch das Leuchten, das von der Wand ausging, konnte ich sein Gesicht erkennen. Er sah mich mit einem erwartungsvollen Blick an. Warum sah ich diese Wand erst jetzt? Sie war doch so hell. Ich verstand es nicht, also stellte ich ihm diese Frage.
„Weil die Wand erst sichtbar wird, wenn wir die Grenze überqueren. Die Grenze selbst ist unsichtbar." Gab er mir als Antwort. Damit war es für mich auch erledigt.
„Gut, ich bin bereit.", sagte ich, ließ seine Hand aber trotzdem nicht los.
Gemeinsam gingen wir durch die Wand und es kribbelte wirklich nur ein Wenig. Überhaupt nicht unangenehm. Nach nur einem Schritt waren wir schon auf der anderen Seite und die Wand befand sich jetzt hinter uns. Ich sah ein Licht am Ende des Tunnels. Ein vertrautes Gefühl kam in mir auf. Ein Wohlbefinden und gleichzeitig diese tiefe Traurigkeit. Sie war so stark, dass ich schlucken musste. Wieso jetzt? Was hatte dieser Ort mit meinen Gefühlen zu tun?
Daren trat vor und ich ihm hinterher. Voller Erwartung, den Kirschblütenübersäten Pfad anzutreffen, ging ich immer schneller. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in mir auf, den kleinen Jungen aus meinem Traum am ende des Tunnels anzutreffen. Wie ein fallengelassener Spiegel zerbrach diese Hoffnung, als wir aus der Höhle raus kamen. Statt den blühenden starken Bäumen, sah ich kahle Zweige, die im Wind schaukelten. Statt der grünen Wiese in der Ferne, lag nur Dreck und Matsch auf dem Boden. Und als ich direkt vor meine Füße sah, waren da keine Kirschblüten, sondern rotbraune Flecken, die mir wieder die Tränen in die Augen trieben. Es sah aus wie Blut. Beim genauen hinsehen, stellte sich heraus, dass es nur eine Art Erde war. Auf unserem Planeten gab es solche Erde nicht. Da war ich mir sicher.
„Wo sind wir?", fragte ich und eine Träne fiel mir von der Wange auf den Boden.
„Das ist Retzia. Wundere dich nicht, wir sind auf dem Blutigen Pfad. Es ist praktisch der Kern des Planeten. Der Rest sieht viel angenehmer aus." Er sagte es so, als wäre hier nie etwas Anderes gewesen.
„Und wieso sieht es hier so schrecklich aus?", fragte ich verwirrt.
„Weil der Planet stirbt."
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Retzia - Der Blutige Pfad
FantasyIn einer Welt, in der Drachen als Haustiere gehalten werden, Vampire die Leibgarde der Königsfamilie sind und Werwölfe als Mörder und Vergewaltiger hingerichtet werden, sollte man auf keinen Fall etwas Dummes tun. Genau das habe ich aber getan. - Me...