Kapitel 6

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Nur wenige Straßenlaternen beleuchteten den Weg zum Wald und hörten mit dem Asphalt auf, kurz vor den ersten Tannenbäumen. Es waren große Fichten, die in der Dunkelheit scheinbar bis zum Himmel aufragten. Hier und da hörte man ein Rascheln kleiner Tiere. Vermutlich Ratten. Zum Glück hatte ich meine Taschenlampe dabei, denn es war stockfinster und verdammt gruselig. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Umkehren lohnte sich aber nicht mehr, weil ich schon fast da war, also ging ich einfach weiter und summte irgendwelche schiefen Töne, damit die Waldgeräusche mir nicht so laut vorkamen.

An der Höhle, wo angeblich das Portal sein sollte, angekommen, sah ich mich erstmal um. Es war alles wie früher, soweit ich es in der Dunkelheit erkennen konnte. Ein einigermaßen breiter Weg führte hinein und drumherum waren nur Bäume und Büsche. In der Höhle wimmelte es von Fledermäusen, ich hörte nämlich ein Paar Geräusche, die von dort kamen und etwas Anderes konnte es nicht sein. Außer einem Penner der sich dort eingenistet hatte, was aber sehr unwahrscheinlich war. Hier gab es schließlich nichts zu holen.

Ich wartete noch ein Wenig aber nichts geschah. Keine Erinnerungen - kein Portal.
„Scheiß drauf ", sagte ich zu mir selbst, drehte mich um und ging schon ein Paar schritte wieder zurück zur Zivilisation, als ich plötzlich sehr laute und schnelle Schritte aus der Höhle vernahm. Ruckartig drehte ich mich um, die Taschenlampe auf den Eingang gerichtet und sah wie zwei riesige Gestalten mit einer übermenschlichen Geschwindigkeit auf mich zuliefen. Im nächsten Augenblick waren sie schon bei mir und packten mich an den Oberarmen. Ich wehrte mich mit ganzer Kraft, aber es nützte nichts, meine Tritte und Hiebe schienen denen nicht das Geringste auszumachen. Sogar als ich dem, der mich an dem rechten Oberarm hielt in die Finger biss, gab er kein Ton von sich. Es war zwecklos. Wo war nur meine taffe und gefühlslose Persönlichkeit geblieben? Sobald es brenzlig wurde zog ich den Schwanz ein, hatte Angst und weinte wie ein kleines Mädchen.

Ich ahnte es bereits. Mein Ende war gekommen. Falls die mich jedoch nicht töteten, nachdem sie mir das antaten, wovor alle Eltern ihre jungen Töchter warnen, musste ich mir die Gesichter merken, um später bei der Polizei ein Phantombild zu erstellen. Nur blöd, dass ich meine Taschenlampe, bei dem erbärmlichen Versuch mich zu wehren, fallen lassen hatte. Die Typen hatten schwarze lange Mäntel an und man konnte die Gesichter nicht erkennen, da beide eine Kapuze übergezogen hatten. Ich hatte aber noch ein Ass im Ärmel oder besser gesagt: ein Messer in der Hosentasche. Es war auch von meiner Großmutter, sie sagte es sei ein Familienerbstück und ich solle es immer bei mir tragen. Natürlich tat ich das nicht, aber ich war froh ihn kurz vor dem Rausgehen eingesteckt zu haben. Es war klein, die Klinge war nur so lang wie mein kleiner Finger. Um den Griff wand sich eine Schlange, die rote Steinchen als Augen hatte. Auf dem Rücken der Schlange waren komische Zeichen eingraviert, ich nahm an, dass es Chinesisch war.
Vorsichtig griff ich in meine Hosentasche, befreite das Messer von der Schutzhülle und stieß es dem selben Kerl, dem ich in die Finger gebissen hatte in den linken Oberschenkel. Er schrie auf, ließ mich los und hielt sich die blutende Wunde mit der Handfläche zu. Leider konnte ich das Gesicht immer noch nicht erkennen, weil der andere mir eine feste Ohrfeige verpasste und mich auf den Boden warf. Ich lag auf dem Bauch, das Gesicht in die feuchte Erde gedrückt. Mit seinem Fuß trat er auf mein Handgelenk, so dass ich das Messer fallenlassen musste. Ich schrie auf. Es tat so weh, dass ich dachte, er hätte mir den Arm gebrochen. Noch mehr Tränen flossen über mein Gesicht. Verzweiflung breitete sich langsam in mir aus und die Angst vor dem Tod raubte mir den Atem.

Retzia - Der Blutige PfadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt