Unglaubliches

61 5 0
                                    

In der Tür stand Amelie.
Amelie war meine jüngste Schwester.
Sie stand erwartungsvoll da und schaute uns mit ihren dunklen Kinderaugen an. Charlotte und ich wechselten einen Blick, dann wand ich mich an Amelie.

"Ähm, nichts Wichtiges", meinte ich schnell. Ich mochte es zwar nicht gerne, auf ihre Fragen so ausweichend zu antworten, aber es ging nicht anders. Das Risiko, dass sie aus Versehen etwas verraten würde, war einfach zu groß.

Amelie ließ natürlich nicht locker.
"Marie! Ich mag es nicht, wenn ich etwas nicht wissen darf!", quengelte sie. Ihr trotziger Blick war auf mich gerichtet. Ich ging zu ihr und schloss sie tröstend in meine Arme. Ich streichelte ihr über den Kopf und flüsterte ihr ein 'tut mir leid' zu.

Auch Charlotte machte ein bedrücktes Gesicht, doch auch sie kannte meine kleine Schwester gut genug, um sie einzuschätzen. Das Risiko war zu groß. Wir mussten einfach vorsichtig sein. Umso weniger Leute von unseren Dorf-Plänen wussten, umso besser war es.
Amelie löste sich aus meiner Umarmung und schaute mich an.
"Wieso darf ich das Geheimnis nicht auch wissen?", fragte sie nach.
"Oh Ammie, ich verspreche, ich werde dir alles erzählen, wenn du ein bisschen älter bist, okay?" Ich drückte ihr eine Kuss auf den Kopf und hoffte, diese Aussicht würde ihr genügen.
Sie wirkte tatsächlich zwar nicht komplett zufrieden, erwiderte aber nichts.

"Marie, Ammie! Kommt schnell her!", rief da plötzlich Charlotte, die am Fenster gestanden hatte. Das ließen wir uns nicht zwei mal sagen. Sofort liefen wir zum Fenster und schauten hinunter in den Schlosshof. Charlotte war völlig aufgeregt und deutete auf irgendetwas. "Schaut doch mal! Dort unten!", rief sie. Ich sah zuerst nicht, was sie meinte, doch dann weiteten meine Augen sich umso mehr.

"Pferde!", staunte Amelie.
Mir war der Kiefer herunter geklappt und ich starrte einfach nur die drei edlen Tiere an, die der Diener dort unten gerade über den Hof führte. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich konnte meinen Augen einfach nicht trauen.

Eine riesige Welle von alten Erinnerungen überrollte mich. Früher war ich lange Zeit geritten. Wir hatten damals auf dem Hof Pferde gehabt und ich hatte endlose Stunden mit Ihnen verbracht. Dann hatten meine Eltern die Pferde verkauft und für mich war eine Welt zusammen gebrochen. Warum meine Elter sie verkauft hatten, wusste ich heute noch nicht so genau.

Jetzt sah ich das Bild von Giran vor mir, das Pferd auf dem Hof von Marvin's Vater.
Marvin.
Ich hatte mittlerweile wirklich das Gefühl, jede Gedankefolge würde bei ihm enden.

"Marie?"
"Ja", verwirrt schaute ich auf.
"Kommst du jetzt mit, oder nicht?", fragte Charlotte.
"Wohin denn?" Hatte ich etwa etwas verpasst? Das konnte mir leicht einmal passieren, wenn ich in meinen Gedanken gefangen gehalten wurde.
"Na nach unten!"
"Ach so. Ja, ich komm mit."

Unten in der Eingangshalle trafen wir auf eine Diener, die bei unserem Anblick sofort in einen Knicks versank.
Wenn ich ehrlich bin nervte mich dieses ganze Geknickse eigentlich nur.
Aber es war nun einmal so.

"Entschuldigung, wissen Sie, was die Pferde im Hof zu bedeuten haben?", fragte Charlotte.
Die schlicht gekleidete Frau hob den Kopf und nickte unsicher. Sie war jung und noch nicht lange auf dem Hof.
"Ihr Vater hat sie auf den Hof bringen lassen", informierte sie uns.
"Unser Vater?", fragte ich nach.
Das konnte nur ein Irrtum sein.
"Ja, ihr Vater war derjenige, der die Pferde auf den Hof bringen ließ."
Auch in den Gesichtern meiner Schwestern konnte man lesen, dass sie das Ganze nicht ganz glauben konnten.

Die Dienerin knickste und eilte dann weiter. Wir blieben verwirrt stehen.

Es vergingen nur zwei Minuten, dann kam eine Zofe auf uns zu.
Unser Vater hatte sie geschickt und sie beauftragt uns in sein Arbeitszimmer zu holen.

Mein Vater saß in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch. Sein Arbeitszimmer war in Beige-Tönen gehalten und es gab viele Bücherregale und zwei Kommoden.
Unser Vater winkte uns zu sich und wir setzten uns schließlich auf das Sofa, dass mit einem festen, jedoch trotzdem edlen Stoff überzogen war. Mein Vater setzte sich in einen Sessel.

"Gut, dass ihr gekommen seid. Ich möchte gerne etwas mit euch besprechen, mit euren Geschwistern habe ich vorhin schon darüber geredet", begann er.

"Ich habe mir lange Maries Gründe für das Verlassen des Schlosses durch den Kopf gehen lassen. Ich denke nach wie vor natürlich, dass es nicht richtig von dir war zu gehen, Marie, aber ich möchte natürlich trotzdem, dass euer Zuhause für euch ein schöner Ort ist. Von daher möchte ich von nun an euch mehr Aufenthalt an der frischen Luft ermöglichen."

Überrascht schaute ich ihn an.
Mich berührten seine Worte sehr. Ich hätte nie etwas, wie das, erwartet.
"Ich habe Pferde auf den Hof kommen lassen, da ich weiß wie sehr vor allem du, Marie das Reiten geliebt hast."
Mir fehlten die Worte.

"Heißt das...ich darf wieder reiten?", fragte ich ungläubig.
"Ja, das heißt es, mein Kind."
Tränen stiegen in meine Augen.
Freudentränen.
Ich hätte das alles niemals erwartet!
Alles Mögliche hatte ich immer nur verboten bekommen und jetzt auf einmal versetzen sich meine Eltern in mich hinein!
Sie hatten sich etwas überlegt, um mir eine Freude zu machen.

Auch meine Schwestern strahlten.
Charlotte war auch einmal geritten und ich war mir sicher das Amelie gerade den Entschluss gefasst hatte, das Reiten auch einmal zu probieren.

Mein Vater betrachtetet zufrieden unsere fröhlichen Gesichter.
"Ich bin sehr froh darüber, dass ich euch eine Freude machen konnte. Helene konnte sich ja noch nie für das Reiten begeistern aber Ludwig war ebenfalls sehr erfreut, als ich ihm die Neuigkeiten mitteilte. Christian ist noch zu klein für das Reiten, er hat sich trotzdem gefreut, dass in unseren Ställen nun wieder Pferde wohnen."

Wir bedankten uns alle sehr herzlich und aus vollem Herzen bei unserem Vater, denn er sollte auf jeden Fall wissen, wie glücklich er uns gemacht hatte.

Ich schlug mein Buch auf.
"Hallo Grazie", flüsterte ich leise.

Ein Wunder ist geschehen. Ich werde tatsächlich wieder reiten können! Und das habe ich nur meinen Eltern zu verdanken. Ich verstehe es immer noch nicht, doch es macht mich unglaublich glücklich.

Wenn ich jetzt nur Marvin bei mir hätte. Ich werde morgen etwas unternehmen, um ihn zu finden.
Ich vermisse ihn einfach zu sehr und habe solche Angst um ihm.

MarieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt